Wie Israels Angriffe auf Gaza in Tel Aviv und in den westlichen Medien gerechtfertigt werden, und warum Hamas doch nicht verlieren kann
Vor fast 70 Jahren wurde während des Zweiten Weltkriegs in Leningrad ein abscheuliches Verbrechen begangen. Länger als tausend Tage hielt eine Gang von Extremisten, die »Rote Armee« genannt wurde, Millionen Einwohner der Stadt als Geiseln und provozierte die deutsche Wehrmacht aus den Bevölkerungszentren heraus. Die Deutschen hatten keine andere Möglichkeit, als die Bevölkerung zu bombardieren und sie einer totalen Blockade auszusetzen, die den Tod von Hunderttausenden verursachte. Nicht lange zuvor wurde in England ein ähnliches Verbrechen begangen. Die Churchill-Bande versteckte sich inmitten der Londoner Bevölkerung und mißbrauchte Millionen Bürger als menschliche Schutzschilde. Die Deutschen waren so gezwungen, ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt widerwillig in Schutt und Asche zu legen.
Dies ist die Beschreibung, die jetzt in den Geschichtsbüchern stünde – wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten. Absurd? Nicht absurder als die täglichen Nachrichten unserer Medien, die so oft wiederholt werden, daß einem speiübel wird: die Hamas-Terroristen halten die Bewohner des Gazastreifen als »Geiseln« und benützen die Frauen und Kinder als »menschliche Schutzschilde«, sie lassen uns keine Alternative, als massive Bombardements durchzuführen, in denen zu unserm großen Bedauern Tausende von Frauen, Kinder und unbewaffneten Männer verletzt oder gar getötet werden.
In diesem Krieg – wie in allen modernen Kriegen – spielt die Propaganda eine große Rolle. Das reale Kräfteverhältnis zwischen der israelischen Armee mit ihren Kampfflugzeugen, Drohnen (unbemannte Flugmaschinen), Kriegsschiffen, Panzern, ihrer Artillerie einerseits und den paar tausend leichtbewaffneten Hamas-Kämpfer ist 1000:1, wenn nicht sogar 1000000:1.
Israels Propagandalinie
Fast alle westlichen Medien wiederholten anfangs die offizielle israelische Propagandalinie. Sie ignorierten fast völlig die palästinensische Seite der Geschichte, ebenso wie die täglichen Demonstrationen des israelischen Friedenslagers. Die Gründe der israelischen Regierung (»Der Staat muß seine Bürger gegen die Kassam-Raketen schützen«) wurden wie die reine Wahrheit akzeptiert. Der Blickwinkel von der anderen Seite, daß die Kassams nämlich nur eine Antwort auf die Belagerung seien, die anderthalb Millionen Menschen im Gazastreifen an die Grenze des Verhungerns bringt, wurde überhaupt nicht erwähnt. Erst als die schrecklichen Szenen aus dem Gazastreifen auf den westlichen Bildschirmen zu erscheinen begannen, fing die öffentliche Meinung der Welt langsam an, sich zu verändern.
Der Krieg – jeder Krieg – ist ein Lügenreich. Ob dies nun Propaganda oder psychologische Kriegsführung genannt wird, jeder akzeptiert, daß es richtig ist, für sein Land zu lügen. Jeder, der die Wahrheit sagt, riskiert, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Das Problem ist, daß Propaganda zuerst und vor allem den Propagandisten selbst überzeugt. Und nachdem man sich selbst davon überzeugt hat, daß die Lüge die Wahrheit und die Verfälschung die Realität ist, kann man keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen.
Ein Beispiel für diesen Prozeß lieferte die bis jetzt erschreckendste Greueltat dieses Krieges: der Beschuß der UN-Fakhura-Schule im Dschabalija-Flüchtlingslager. Kurz nachdem dieser Vorfall weltweit bekannt wurde, »enthüllte« die Armee, daß Hamas-Kämpfer von einem Vorplatz der Schule aus Mörsergranaten abgeschossen hätten. Als Beweis veröffentlichte man eine Luftaufnahme, auf der tatsächlich die Schule und der Mörser zu sehen waren. Aber innerhalb kurzer Zeit mußte der offizielle Armeelügner zugeben, daß das Foto älter als ein Jahr ist, also eine Fälschung. Später behauptete der offizielle Lügner, daß »unsere Soldaten aus dem Inneren der Schule« beschossen worden seien. Aber kaum einen Tag danach mußte die Armee dem UN-Personal gegenüber zugeben, daß auch dies eine Lüge gewesen war. Keiner hatte aus der Schule geschossen, keine Hamas-Kämpfer waren in der Schule, die voll verängstigter Flüchtlinge war. Aber das Eingeständnis wurde kaum mehr wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war die israelische Öffentlichkeit vollkommen davon überzeugt, daß »aus der Schule geschossen worden war«, und Fernsehsprecher zitierten dies als einfache Tatsache.
Alles ist Hamas
Genau so ging es mit den anderen Greueltaten. Jedes Baby wurde im Augenblick seines Todes zu einem Hamas-Terroristen. Jede zerbombte Moschee wurde sofort zu einer Hamas-Basis; jedes Wohngebäude ein Waffenversteck; jede Schule ein Terrorkommandoposten; jedes zivile Regierungsgebäude ein »Herrschaftssymbol der Hamas«. Auf diese Weise blieb die israelische Armee die »moralischste Armee der Welt«. Die Wahrheit ist, daß die Greueltaten eine direkte Folge des Kriegsplanes waren. Dies wirft ein Licht auf die Persönlichkeit Ehud Baraks – eines Mannes, dessen Denk- und Handlungsweisen ein klarer Beweis für das ist, was »moralischer Irrsinn« genannt wird. Das wirkliche Ziel (abgesehen davon, mehr Sitze bei den kommenden Wahlen zu gewinnen) ist die Beendigung der Hamas-Herrschaft im Gazastreifen. In der Vorstellung der Kriegsplaner sieht die Hamas wie ein Eindringling aus, der fremdes Land kontrolliert. Die Wirklichkeit ist natürlich ganz anders.
Die Hamas-Bewegung hat bei den ausgesprochen demokratischen Wahlen, die 2006 in der Westbank, in Ostjerusalem und im Gazastreifen stattgefunden haben, die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Sie gewann, weil die Palästinenser zur Schlußfolgerung gekommen waren, daß die Fatah durch ihre friedliche, also gewaltfreie Herangehensweise nichts von Israel erreicht hat – weder den Stopp des Siedlungsbaus noch irgendeinen bedeutsamen Schritt in Richtung eines Endes der Besatzung oder der Schaffung des palästinensischen Staates. Die Hamas ist tief in der Bevölkerung verwurzelt – nicht nur als Widerstandsbewegung, sondern auch als eine politische und religiöse Körperschaft, die im sozialen, schulischen und medizinischen Bereich aktiv ist. Vom Standpunkt der Bevölkerung sind die Hamas-Kämpfer keine Fremdkörper, sondern die Söhne einer jeden Familie im Gazastreifen wie auch in den anderen palästinensischen Gebieten. Sie verstecken sich nicht »inmitten der Bevölkerung«, die Bevölkerung sieht sie als ihre einzigen Verteidiger an.
Deshalb gründet sich die ganze Operation auf irrigen Vermutungen. Das Leben der Bevölkerung in eine Hölle zu verwandeln, wird die Bevölkerung nicht dahin bringen, sich gegen die Hamas zu erheben, sondern das Gegenteil erreichen, sie vereinigt sich hinter der Hamas und verstärkt ihre Entscheidung, sich nicht zu ergeben. Die Bewohner von Leningrad haben sich nicht gegen Stalin erhoben, so wenig wie die von London gegen Churchill.
Derjenige, der den Befehl für solch einen Krieg mit solchen Methoden in einem dicht bevölkerten Gebiet gegeben hat, weiß, daß dieser ein entsetzliches Gemetzel unter der Zivilbevölkerung anrichten wird. Anscheinend hat ihm dies nichts ausgemacht. Oder er glaubt, »dies wird ihr Verhalten verändern« und » es wird ihr Bewußtsein verändern«, so daß sie zukünftig Israel nicht mehr zu widerstehen wagen würden. Die Hauptsache für die Kriegsplaner war, die Todesrate unter den eigenen Soldaten so gering wie möglich zu halten.
Dies bedeutete die bewußte Entscheidung für eine besonders grausame Kriegsführung – und das war ihre Achillesferse. Eine Person ohne Phantasie wie Verteidigungsminister Barak (sein Wahlslogan heißt: »Nicht ein netter Kerl, sondern ein Führer«) kann sich nicht vorstellen, wie anständige Leute rund um den Globus auf solche Aktionen wie die Tötung ganzer Großfamilien reagieren, auf die Zerstörung der Häuser über den Köpfen ihrer Bewohner, auf die Reihen von Jungen und Mädchen in Leichensäcken, auf die Berichte über Menschen, die über Tage langsam verbluten, weil die Krankenwagen nicht zu ihnen durchgelassen werden, auf das Töten von Ärzten und Sanitätern, die auf dem Weg sind, Leben zu retten, auf Berichte über das Erschießen von UN-Fahrern, die Lebensmittel bringen. Die Fotos aus den Krankenhäusern mit den Toten, Sterbenden und Verletzten, die aus Platzmangel alle zusammen auf dem Fußboden liegen, haben die Welt erschüttert.
Macht der Bilder
Die Schlacht um den Fernsehschirm ist eine der entscheidenden Schlachten des Krieges. Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis zum Irak, mehr als eine Milliarde Muslime von Nigeria bis Indonesien sehen diese Bilder und sind geschockt. Dies hat eine große Auswirkung auf den Krieg. Viele der Fernsehzuschauer sehen die Herrscher Ägyptens, Jordaniens und der Palästinensischen Behörde als Kollaborateure Israels, das diese Greueltaten gegen ihre palästinensischen Brüder ausführt. Die Sicherheitsdienste der arabischen Regime registrieren eine gefährliche Unruhe in der Bevölkerung. Hosni Mubarak, der für die Schließung des Rafah-Grenzüberganges im Angesicht panischer Flüchtlinge verantwortlich ist, der exponierteste alle arabischen Führer, begann Druck auf die Entscheidungsträger in Wa shington auszuüben, die bis jetzt alle Aufrufe für eine Feuerpause blockiert hatten. Diese verstanden langsam die Gefahr für die amerikanischen Interessen in der arabischen Welt und veränderten auf einmal ihre Haltung, was unter den selbstzufriedenen israelischen Diplomaten Bestürzung hervorrief.
Leute mit »moralischem Irrsinn« können die Motive normaler Menschen nicht verstehen und müssen ihre Reaktionen erraten. »Wie viele Divisionen hat der Papst?« spottete Stalin. »Wie viele Divisionen haben die Menschen mit Gewissen?« könnte Ehud Barak nun fragen. Wie sich herausstellt, haben sie einige. Nicht sehr viele. Und sie reagieren auch nicht sehr schnell. Sie sind auch nicht stark und gut organisiert. Aber in einem bestimmten Moment, wenn die Greueltaten überhandnehmen und die Massen der protestierenden Demonstranten zusammenkommen, kann dies einen Krieg entscheiden.
Das Versagen, das Wesen der Hamas zu begreifen, hat auch ein weiteres Versagen verursacht, nämlich die voraussagbaren Folgen zu verstehen: nicht nur, daß Israel den Krieg nicht gewinnen kann – die Hamas kann ihn auch gar nicht verlieren. Selbst wenn es der israelischen Armee gelingen sollte, jeden Hamas-Kämpfer bis zum letzten Mann zu töten, selbst dann würde die Hamas siegen. Die Hamas-Kämpfer würden für die arabische Nation als Vorbilder dastehen, als die Helden des palästinensischen Volkes, als Vorbilder, denen jeder junge Mann in der arabischen Welt nacheifern sollte.
Im Bewußtsein der Welt wird Israel das Image eines blutrünstigen Monsters haben, das bereit ist, jeden Augenblick Kriegsverbrechen zu begehen, nicht aber, sich an moralische Einschränkungen zu halten. Dies wird langfristig gesehen schwerwiegende Konsequenzen für unsere Zukunft, für unsere Position in der Welt haben und für unsere Chancen, Frieden und Ruhe zu erlangen. Am Ende ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
Dieser Text erschien in der Tageszeitung Junge Welt, am 13. Januar 2009. Wir dokumentieren ihn.
Uri Avnery ist Mitbegründer des israelischen Friedensblocks Gush Shalom. Vollständige Fassung seines Artikels: www.uri-avnery.de.
Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz