Die Türen des Zuges gehen auf und ich bin nach einen Jahr wieder in meiner Heimatstadt in Ostdeutschland. Es handelt sich hierbei um eine ehemalige Großstadt und Bezirkshauptstadt der DDR. Seit dem Ende des Sozialismus in Ostdeutschland wird diese Stadt und die umliegende Region als ‘strukturschwaches‘ und ‘industriefreies Gebiet‘ bezeichnet. Die nun geschilderten Eindrücke und Fakten sind ein Abbild der Entwicklungen, die in vielen ostdeutschen Städten zu beobachten sind.
Gedanken zur DDR
Nach meiner Ankunft führt mich mein erster Weg zu der regionalen Straßenbahn, deren Schienennetz noch vor wenigen Jahren an US-Investoren verleast bzw. verkauft werden sollte. Damit wäre ehemaliges Staatseigentum für 99 Jahre Eigentum der US-Investoren gewesen. Auch hier stellt die Privatisierung von gesellschaftlichem Eigentum einen Teil der neuen Freiheit des Kapitalismus dar. Doch nun steige ich ein und beginne meine Fahrt im ehemals größten Neubaugebiet der Stadt. Der schnelle Wohnungsbau zu DDR-Zeiten war notwendig, um der Bevölkerungszunahme und der steigenden Bedeutung der Stadt gerecht zu werden. Die Fahrt führt mich an grauen und veralteten Wohnblöcken vorbei. Ich entdecke auch eine Vielzahl von leer stehenden Blöcken, bei denen es sich um ehemalige ArbeiterInnenwohnungen handelt. Diese bildeten die Lebensgrundlage für die zehntausenden Beschäftigten in den Großbetrieben der Stadt. So gab es „Volkseigene Betriebe“ (VEB) im Maschinenbau, in der optischen Industrie sowie in der Textil- und Elektronikindustrie uvm. Es handelte sich dabei um Arbeitgeber, die jeweils bis zu 5.000 ArbeiterInnen beschäftigten. Diese Betriebe waren nicht nur die Arbeits- und Ausbildungsperspektive für junge Menschen, sondern gaben auch die Möglichkeit zur Einbindung in das Kollektiv, als wichtiger und benötigter Teil einer Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung der Arbeitskraft beruhte. Betriebsgruppen, Nachbarschaftskollektive und (Jugend-)Brigaden bildeten soziale Einheiten, in denen sich der Einzelne zum Wohle der Gemeinschaft einbringen, diskutieren und planen konnte. Sorgen um einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, Angst vor Entlassung und interner Konkurrenz, kapitalistischer Leistungsdruck und fehlende Freizeit, Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen und das traditionelle Geschlechterbild (Frau führt den Haushalt, Mann verdient das Geld) waren Fremdwörter in den 1980er Jahren der DDR. So gab es eine Arbeits- und Ausbildungsplatzgarantie, eine hohe Anzahl von Großbetrieben mit mehreren tausend Erwerbstätigen, feste staatliche Subventionen für Mieten und Kinderbetreuung, ein niedriges Preisniveau für den Grundbedarf und ein kostenloses Gesundheits- und Bildungssystem. Diese Errungenschaften wurden bis zum Ende der DDR aufrechterhalten und blieben die Basis der sozialistischen Politik. Auch in den letzten Monaten der DDR wurden die Löhne weiter pünktlich ausgezahlt und die Grundsicherung der Bevölkerung war gewährleistet.
Die Räder der Straßenbahn quietschen auf den Schienen, bis sie an der nächsten Haltestelle zum stehen kommt. Aus dem Fenster sehe ich ein ehemaliges Gymnasium, daneben einen alten Kindergarten und eine vergammelte Grundschule. Die Uhr an der Fassade der Schule steht still – es ist fünf vor zwölf. In der Straßenbahn bin ich der einzige Mitfahrer, das Gefühl eines ausgestorbenen Stadtteils durchdringt mich. Aus diesen Ruinen wird wohl niemand mehr auferstehen, die verfallenen Gebäude sind nur noch ein Schatten des einstigen Lebens hier. So war das kulturelle Leben in dieser Stadt einst sehr vielfältig. Jeder Stadtteil bot ein Eigenleben mit Schulen, medizinischen Einrichtungen, Bibliotheken, staatlichen Einzelhandelsunternehmen (HO) und weiteren kulturellen und sozialen Einrichtungen. Ein Höhepunkt in dieser Stadt waren die Arbeiterfestspiele Mitte der 1980er Jahre. Hier traten Berufs- und Volkskünstler aus den Bereichen Literatur, Theater, Musik und Kunst auf. Bei meiner jetzigen Straßenbahnfahrt sehe ich ein anderes Bild. Das einstige Leben ist verschwunden und es offenbaren sich die Folgen des vor 20 Jahren eingefallenen Kapitalismus. Heute besteht eine Konzentration auf den Stadtkern, auch in Folge des massiven Bevölkerungsschwundes. Die Außenbezirke bzw. Wohngebiete vegetieren nun vor sich hin.
Blühende Landschaften – fehlende Arbeitgeber – westdeutsche Besitzer
Die Fahrt geht weiter und führt mich vorbei an den ehemaligen Lehrlingswohnheimen von Großbetrieben, die nun kaum noch belegt sind (vor allem nicht mit Azubis) und in der untersten Etage befinden sich jetzt Handygeschäfte, Wettanbieter und Lottogesellschaften. Die Bahn hält an und es steigen nun die ersten Personen ein, die womöglich auf dem Weg zur Arbeit im jetzigen Gewerbegebiet der Stadt sind. Dort befand sich einst ein Großbetrieb (VEB) mit damals 3500 Mitarbeitern. Der VEB wurde kurz nach der Vereinigung geschlossen und ist nun als zukunftsorientiertes Gewerbegebiet ausgeschrieben. Die Belegung des Gewerbegebietes der Zukunft liegt bisher bei unter 50 Prozent und es handelt sich bei den Unternehmen vor allem um Kleinbetriebe mit jeweils weniger als 50 Mitarbeitern. Mir kommt der Gedanke, dass über dem Eingang des Gewerbegebietes die Worte des ehemaligen Bundeskanzlers der BRD, Helmut Kohl, angebracht wären. Dieser erklärte im Jahre 1990: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Jeder sollte sich an dieses Versprechen zur ökonomischen Zukunftsperspektive für Ostdeutschland erinnern. Mit dem Beitritt der DDR zur BRD stellten sich die versprochenen blühenden Landschaften in Form von Betriebsstilllegungen und der rasant ansteigenden Arbeitslosigkeit ein. Es wurden bereits bis 1994 insgesamt 30 Prozent der ehemaligen VEB liquidiert, 66 Prozent (re-)privatisiert und lediglich 4 Prozent wurden kommunalisiert. Dabei gingen 85 Prozent der Betriebe an westdeutsche Eigentümer, 10 Prozent an ausländische Investoren und ganze 5 Prozent an die ehemaligen DDR-Bürger über. In dieser Stadt verschwanden alle ehemaligen Großbetriebe und der Besitzer des erwähnten Gewerbegebiets sitzt nun in Köln. Die Ausbildungsbetriebe sind auf ein Minimum geschrumpft und es wird jedes Jahr ein Festakt im Rathaus veranstaltet, wenn ein Betrieb sich bereit erklärt, 20 bis 30 Azubis auszubilden. Die gewonnene Befreiung (ich nenne es Vernichtung) von Arbeits- und Ausbildungsstätten hat den Jugendlichen nun die Möglichkeit gegeben, die Reisefreiheit durch einen Umzug (ich nenne es Abwanderungszwang) nach Westdeutschland zu genießen. Nicht zu vergessen ist die Zerstörung der sozialen und kulturellen Lebensgrundlage, die verbunden ist mit der Liquidierung von Unternehmen und der Vernichtung der Erwerbsgrundlagen der Einwohner.
Die Straßenbahn rattert am Gewerbegebiet vorbei. Die Personen von vorhin sind sitzen geblieben, sie arbeiten wohl doch nicht dort. Erst bei der nächsten Station steigen ein paar Leute aus. Die Bahn hält in unmittelbarer Nähe der größten Arbeitgeber der Stadt (TELEKOM und Deutsche Rentenversicherung), die jeweils knapp 900 ArbeiterInnen beschäftigen.
Die Vermehrung der Armut und Arbeitslosigkeit
Die meisten Leute vom Anfang sind jedoch auch bei der TELEKOM nicht ausgestiegen. Mit finsteren Blicken schauen sie aus dem Fenster und lassen die Stadt an sich vorüberziehen. Eine ältere Frau regt sich über ein kleines, quengelndes Kind auf. Ein schnelles Bremsen und nun steht dir Bahn direkt vor der Tür der Agentur für Arbeit. Es wundert mich, warum sie nicht Arbeitslosenhaltestelle heißt. Doch der Name der Straße hat seine eigene Geschichte. Vor und während des Krieges hieß sie Reichsstraße, zu DDR-Zeiten wurde sie nach dem Antifaschisten und Kommunisten Ernst Thälmann benannt und nun heißt wieder Reichsstraße. Hier leert sich die Straßenbahn wieder.
Die Arbeitslosenzahlen der Stadt sind seit 15 Jahren überdurchschnittlich hoch, zwischen 15 und 18 Prozent. Jeder achte Einwohner und mehr als jedes drittes Kind ist arm. Hierbei zeigt sich die Vererbung von Armut, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird und somit die Perspektivlosigkeit der gesamten Familie aufzeigt. Aber dies sind keine ungewöhnlichen Zahlen für Ostdeutschland. So leben im Jahr 2010 ca. 24 Prozent der ab 18-jährigen unter der Armutsgrenze und es bildet sich eine Art eigenständige ‘Kultur der Armut‘ heraus.
Nun geht die Fahrt weiter und ich bin im Stadtkern angekommen. An dieser Stelle bleibt die Bahn für drei Minuten stehen und ich kann mich in Ruhe umsehen. Der Kern der Stadt ist gut renoviert und es gibt eine Vielzahl von Einkaufsmöglichkeiten. Es scheint auf den ersten Blick unvorstellbar, dass zwischen den Einkaufshallen und dem offen zutage tretenden Konsum im Stadtzentrum eine breite Masse in Armut leben muss oder sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befindet. Dies ist kein Widerspruch, denn die Armut ist nicht gänzlich offensichtlich. Erst bei der weiteren Fahrt kann ich aus dem Fenster mir bekannte Einrichtungen erkennen, die ein anderes Bild der Stadt offenlegen. Es handelt sich hierbei um Vereine mit ehrenamtlichen Helfern, die ihre Kraft und ihre Zeit in Arbeiten stecken, die eigentlich Aufgabe des Staates wären. Sie müssen mit ihrem Engagement dort einspringen, wo der deutsche BRD-Staat sich zurückzieht oder kein Interesse mehr hat, für die Menschen zu sorgen. Bei einem Rundgang durch die Stadt kann jedermann eine Vielzahl von solchen Vereinen entdecken. Da ist der in vielen deutschen Städten übliche Tafel e.V., welcher für die Versorgung sowie Unterstützung bedürftiger Menschen mit Lebensmitteln sorgt, oder die Nachbarschaftshilfe, die Hilfe für sozial Schwächere durch aktive Integration in die Gesellschaft leistet. Weitere Vereine kann ich aus der Straßenbahn heraus erkennen, wie die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus, den Verein gegen soziale Kälte, welcher für eine gerechte Arbeit kämpft, und den Jugendhilfeverbund der Stadt. Diese Vereine helfen, die Armut in der Stadt abzufedern. Dabei sind sie zumeist abhängig von privaten Spendern, da die Kommunen die Gelder kürzen, falls sie überhaupt diese Vereine jemals unterstützten. Die Vereine werden als eine Art kostenlose Selbstverständlichkeit eingebunden, die sich um die verlorenen Teile der Gesellschaft kümmern. Die ehrenamtliche bzw. kostenlose Arbeitskraft der Vereinsmitarbeiter ist ein wichtiger Teil des kapitalistischen Ausbeutungssystems, da einstige Aufgaben des Staates und die damit verbundene bezahlte Arbeit ausgelagert werden kann. Für liberale Politiker sind das Kennzeichen eines flexiblen und modernen Sozialstaats.
Keine Zukunft im Osten – Fluchtwelle und das Sterben der Städte
Bei den Stationen der Innenstadt wird es belebter um mich herum. Ich bekomme das Gespräch zwischen zwei Frauen mit, die direkt hinter mir sitzen. Die beiden Frauen reden über ihre Kinder und deren Entwicklung nach dem Schulabschluss. Eine der Frauen erzählt von ihren Sohn, der unmittelbar nach seiner erfolgreichen Ausbildung zum Schlosser nach Westdeutschland gezogen ist. Ihr Sohn ist einer von über 3 Millionen Abgewanderten, die seit 1990 ihren Wohnsitz nach Westdeutschland verlagert haben. Das Hauptmotiv für diese Entscheidungen waren die ungleichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Mit trauriger Stimme spricht die Frau die ungleichen Einkommensverhältnisse an. So verdient laut DIW-Studie (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) im Jahre 2007 ein Ostdeutscher im Durchschnitt 30 Prozent weniger als ein Westdeutscher. Auch die schlechten Einstiegsmöglichkeiten in Vollzeitarbeitsstellen, die fehlende Übernahmegarantie im Ausbildungsberuf und die bundesweite Bewerbungspflicht aufgrund der fehlenden Arbeitgeber vor Ort sind Teil dieser erhöhten Abwanderung. Den Hauptanteil der Abwandernden stellen die 18- bis 24-jährigen dar. Hierbei ist die Abwanderung von ca. 600.000 jungen und gut ausgebildeten Frauen seit 1991 hervorzuheben. Der Wegzug aufgrund der Suche nach Ausbildung und Arbeit führt dazu, dass die unmittelbaren familiären Beziehungen gestört werden.
Die beiden Frauen hinter mir sprechen weiter über die unerträgliche Situation für die Familie, wenn die eigenen Kinder hunderte von Kilometern entfernt wohnen und nur selten im Jahr nach Hause kommen. Infolge des Gesprächs und den an mir vorbeirauschenden Häusern der Stadt werde ich nachdenklich. Ich frage mich, ob es nicht ein „Freiheitszwang“ ist, wenn man ein Land bzw. eine Region verlassen muss, weil die Möglichkeiten auf eine Ausbildung, eine Arbeit und einen gerechten Lohn begrenzt (wenn nicht unmöglich) sind und weil fehlende Chancengleichheit eine Mobilität (Abwanderung) erzwingt. Während der gesamten Straßenbahnfahrt wird die Fluchtwelle ersichtlich anhand der leeren Plätze, wo die einst großen Wohnblöcke und Großbetriebe abgerissen wurden. Dort wuchert nun das Unkraut und kleine, wilde Wäldchen entstehen. Das Versprechen der blühenden Landschaften bekommt so eine ganz neue Bedeutung…
Hatte meine Heimatstadt im Jahr 1989 noch 132.000 Einwohner, so sind diese auf nunmehr 98.000 Einwohner geschrumpft. Aus diesem Grund hat die Stadt ihren Großstadtstatus vor drei Jahren verloren, was zu weiteren Mittelkürzungen für die Kommune führte. Die Folge dieser Bevölkerungsabnahme ist eine immer älter werdende Stadt. Wo einst Jugendzentren, Sportanlagen und viele Schulen das Stadtbild prägten, sind es heute Senioreneinrichtungen.
Das kulturelle Erbe der DDR wird vernichtet
Durch die Lautsprecheranlage knarzt es: „Nächste Haltestelle, Straße des Bergmanns“ und kurz darauf bleibt die Bahn stehen. Ich schaue nun auf ein ehemaliges 11-geschossiges Arbeiterwohnheim, das seit 1991 leer steht und vor zwei Jahren zu einer Senioreneinrichtung umgebaut wurde. Gegenüber ist die dazugehörige alte Schwimmhalle, einst kostenlos zugänglich für die Arbeiter, und die Berufsschule. Die Schwimmhalle sowie die in diesem Stadtteil befindliche Bibliothek wurden schon vor zehn Jahren geschlossen. Einst gab es in fast jedem Stadtteil Betriebspolikliniken, Kulturhäuser, Kindereinrichtungen, Ferien- und Sporteinrichtungen, Bibliotheken und Jugendzentren. Diese wurden nach 1990 systematisch “abgewickelt“. Damit wurden nicht nur Betreuungsinstitutionen liquidiert, sondern auch Rahmenbedingungen für eine gleichwertige soziale, gesundheitliche und kulturelle Betreuung und Versorgung. Bei meinem letztjährigen Besuch wurde ich zum wiederholten Male Teilnehmer bei einer Bibliotheksauflösung. Da der Medienetat der Stadt weiter jährlich schrumpft, wurde wieder eine weitere Außenstelle der Stadtbibliothek aufgelöst. Ich wollte wenigstens einige der Werke retten. Am Ende des Auflösungsverkaufs ging ich vollgepackt mit Büchern an mehreren Containern vorbei, die mit hunderten oder tausenden von Büchern gefüllt waren. Ziel der Bücher war nun die Mülldeponie.
Die Bahn fährt langsam an den einstigen Eckpfeilern der sozialistischen Gesellschaft vorbei. Zwischendrin sind immer wieder die neuen Hochglanzbauten von Versicherungen und Banken zu sehen. Das ist die neue Kultur.
Rekrutierung von ostdeutschen Jugendlichen für den Krieg
An der nächsten Haltestelle steigt ein ehemaliger Mitschüler von mir ein. Ich erkenne ihn sofort und freue mich, ihn nach langer Zeit wiederzusehen. Doch zunächst irritiert mich seine Bundeswehruniform, war er doch während der Schulzeit ein bekennender Linker. Wir kommen sofort ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er nun in der Kaserne der Bundeswehr am Stadtrand stationiert ist. Begeistert spricht er von den vielen Möglichkeiten, die die Bundeswehr bietet. Sie ermöglicht den Führerschein und bezahlt einen guten Sold. Wie er darauf aufmerksam geworden ist, hake ich nach. Was für eine Frage, zeigt er mir doch die zahlreichen Plakate an den vorbeirauschenden Laternen. Die ganze Stadt ist plakatiert und macht Werbung für die nächste Bildungsmesse. Ein Mitorganisator ist die Bundeswehr, die mit eigenen Einheiten (bestehend aus Offizieren und Bundeswehrberatern) und ihrer “BigBand“ (Bundeswehrchor) gemeinsam auftreten. Dabei stehen die Nachwuchswerbung und das Geldsammeln für “gute Zwecke“ im Mittelpunkt. In diesem Jahr wurden bereits vier solcher Veranstaltungen durchgeführt bei Bildungsmessen, Regionaltouren und unter dem Deckmantel “Studien zu Hause“. Auch die umfangreiche Werbung an Schulen, vor allem an Regel- und Hauptschulen, soll für den Nachwuchs sorgen und genau da ansetzen, wo Perspektivlosigkeit ausgemacht wird. Mir wird schlecht, als ich auch noch sehe, dass auf dem Werbebildschirm in der Straßenbahn für einen “netten Offizierschor“ geworben wird. Das Benefizkonzert der Bundeswehr, für “wohltätige humanitäre Zwecke auf der Welt“, findet bereits zum dritten Mal dieses Jahr statt. Ich spreche meinen Bekannten darauf an, dass die einheimischen Pioniere den Nachschub für Afghanistan sichern und die kämpfenden Truppen unterstützen. Er antwortet umgehend und bezeichnet die Bundeswehr als einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Danach gibt er die Meinung der Bundeswehr wieder, das regionale Panzerbataillon diene als Aufbauhelfer für die afghanische Bevölkerung. Um dessen Leistung zu würdigen, wurden im Frühling dieses Jahres dann auch mehrere Feierlichkeiten (unter anderem im Rathaus und Stadtzentrum) für die “heldenhaften Rückkehrer“ durchgeführt. Es sind weitere öffentliche Appelle vorgesehen, um die Truppen in den nächsten Kriegseinsatz zu verabschieden. Ich gebe meinem Bekannten zu verstehen, dass ein Soldat ein Kriegswerkzeug darstellt und die Pioniere die Beweglichkeit der kämpfenden Truppen ermöglichen. Er ist sprachlos und getroffen, ist er doch eigentlich gegen den Krieg. Eine Hilflosigkeit offenbart sich in seinen Augen. Bei der nächsten Haltestelle steigt er aus und wir verabschieden uns in Frieden.
Nazis als Teil des Alltagslebens
Die Bahn macht nun einen Bogen und es geht in das letzte große Neubaugebiet der Stadt. Hier befindet sich die Endhaltestelle. Ein Ort, der mir für immer im Gedächtnis bleiben wird. Ich steige aus und nähere mich diesem Ort, wo im Jahr 2004 ein grausamer Mord stattfand. Mitten in diesem Wohngebiet wurde ein 27-jähriger “russlanddeutscher“ Aussiedler von vier jungen Nazis (zwischen 14 und 19 Jahren) regelrecht hingerichtet. Er wurde durch brutale Schläge auf den Kopf und durch Zertrümmerung des Gesichts mit einem Hammer zu Tode geprügelt. Es war ein Mord, der die antifaschistische Linke erschütterte, doch keine breite Öffentlichkeit fand und bis heute nicht als politisch motivierter Mord anerkannt ist.
Eine Auseinandersetzung fand nicht statt, sondern es wurde lediglich vor dem antifaschistischen Mahngang von Seiten der Polizei und Presse gewarnt. Diese Warnungen verfehlten ihr Ziel nicht. So wurde der Mahngang von einem riesigen Polizeiaufgebot begleitet und die Innenstadt abgesperrt, um die Anteilnahme daran zu verhindern. Ein Jahr nach der Tat ging die Verfolgungsjagd auf MigrantInnen, Behinderte und Andersdenkende weiter.
Wohin Perspektivlosigkeit, Frust, Arbeitslosigkeit und vererbte Armut führen kann, zeigt das oftmals durch Neonazis geprägte Alltagsbild in vielen ostdeutschen Städten. Es kommt zu einer offen Präsenz der Neonaziszene, die auf eine gewisse Gleichgültigkeit innerhalb der Gesellschaft trifft. Seit Mitte der Neunziger Jahre haben rechte Kräfte einen starken Zulauf, vor allem von Jugendlichen. Dies wird auch in dieser Stadt deutlich bei der Betrachtung der vielen rechten Treffpunkte. Hierbei spielen die Naziläden eine verheerende Rolle. Diese erfüllen die Konsumbedürfnisse von Jugendlichen durch den Verkauf von faschistischen Tonträgern und rüsten den regionalen Sicherheitsdienst der Stadt mit Nazikleidung der Marke ‘Thor Steinar‘ aus. Eine Vielzahl von Naziläden und Versandfirmen prägen ein Stadtbild, welches durch Waffenläden ergänzt wird. Zufälligerweise finden sich diese oftmals neben den Naziläden. Bei den Besitzern solcher Geschäfte handelt es sich zumeist um vorbestrafte Neonazis, die schnellen Kontakt zur Szene herstellen können. So ist die Verbreitung von faschistischem, rassistischem und gewaltverherrlichtem Gedankengut gezielt auf (perspektivlose) Jugendliche ausgerichtet. Die Läden dienen als soziale Orte zur Koordinierung und Unterstützung von politisch motivierten rechten Gruppen oder auch als neuer Arbeitgeber für junge Arbeitslose im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Dass sich Neonazis gezielt junge Arbeitslose als potentielle Kader aussuchen, ist kein Zufall. Hier versuchen sie, ihren Hass zu verbreiten und setzen somit bei der Verarmung und fehlenden Zukunftsperspektive der Jugendlichen an. So werden Ausländer für fehlende Arbeitsplätze, für niedrige Löhne und die sozialen Probleme verantwortlich gemacht. Insbesondere bei Arbeitslosen trifft man dabei auf Zuspruch. So vertreten 48 Prozent die Auffassung, dass es zu viele Ausländer gäbe. Die NPD greift dies auf und so hängen während der Wahlen in der gesamten Stadt Plakate mit der Aufschrift „Arbeit nur für Deutsche“ (übrigens gedruckt in Polen). Dass der Ausländeranteil in der Stadt bei nur 1,4 Prozent liegt, ist dabei unerheblich.
Auch das Angebot von Freizeitaktivitäten steht im Mittelpunkt bei der Anwerbung von perspektivlosen Jugendlichen. Über Vereine soll der Einstieg in die Szene und rechte Ideologie erfolgen. So wurden ‘Streetfightclubs‘, ‘Kickboxvereine‘ und ‘Musikbands‘ mit Hilfe von Sponsoren aufgebaut, welche nun auf Plakaten in der Stadt für jedermann sichtbar Werbung machen. Auf diesen Plakaten wird für die Veranstaltungen (‘Käfigkämpfe‘) geworben. Jugendliche werden von (ehemaligen) Nazikadern im Kampfsport ausgebildet und bekommen dabei die rechte Ideologie vermittelt. Wäre ich einige Wochen früher in der Stadt gewesen, dann hätte ich die öffentliche Auszeichnung „Sportehrennadel der Stadt“ (die Übergabe erfolgte durch den Oberbürgermeister) an einen dieser selbstbetitelten Mitglieder der Anti-Antifa miterleben können.
Insgesamt werden bei genauerer Betrachtung die umfangreichen rechten Angebote und die feste Verankerung der Neonazis offensichtlich. Durch die steigende Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen und durch das Schließen von Jugendeinrichtungen gewinnen diese weiter an Auftrieb. Ein Beweis dafür ist der letztjährige Einzug von NPD-Abgeordneten in das Rathaus. Nun können auch Nazis als gewählte Abgeordnete von ihrem gewonnen Recht der Meinungsfreiheit und des fehlenden staatlichen Antifaschismus ihre Parolen im Rat der Stadt propagieren. Eine Wut erfasst mich am Ende meiner Stadtrundfahrt. Ich schalte den MP3-Player an und es schallt passend zu meiner Stimmung: „Hinter dem Faschismus steht das Kapital, der Kampf um Befreiung ist international.“
Ralf, Marburg
Eine redaktionell gekürzte und überarbeitete Fassung dieser Reportage erschien in POSITION – Magazin der SDAJ #6/2010.
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