Stuttgart 21: Aufruhr im Ländle

veröffentlicht am: 1 März, 2011

Was sich im vergangenen Jahr in Stuttgart abspielte, hat vor wenigen Monaten niemand für möglich gehalten.

Während wir nach jeder Demo mit einer noch größeren Gewissheit nach Hause gehen, dass wir die groß angelegte Umverteilung unserer Steuergelder in die Taschen einiger Profiteure stoppen werden, fürchten die Befürworter immer mehr, dass das Milliardengrab „Stuttgart 21“ auch ihr eigenes werden könnte. Der Rücktritt von Bahnchef Grube, Ministerpräsident Mappus und dem Stuttgarter Oberbürgermeister Schuster wird von immer mehr Menschen gefordert. Doch wir müssen auch beachten, wer hinter ihnen den Weg weist. Wenn Projekte wie „Stuttgart 21“ oder die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke mit solcher Brachialgewalt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchgepeitscht werden, stehen mächtige Interessen dahinter. Zu den Unterstützern von Stuttgart 21 gehören überwiegend Vertreter der Bauindustrie und der Banken, die mit hohen Gewinnmargen aus den Bauaufträgen und Immobiliengeschäften rechnen. Vor allem die Großkonzerne aus der Region wollen das Projekt um jeden Preis, weil sie sich im Rahmen der kapitalistischen Profit- und Konkurrenzlogik umfangreiche Wettbewerbsvorteile versprechen. Dafür wird getrickst, getäuscht und gelogen. Jedes noch so widerliche Mittel scheint ihnen recht zu sein, um ihre Interessen durchzusetzen.

Beispiel ECE

Der Hamburger Immobilienkonzern ECE, dessen Eigentümer die Familie des Ottoversands ist, hat sich schon ein Filetstück gesichert. Er hat den Zuschlag bekommen für den Bau eines neuen Shoppingcenters und eines kompletten Wohnviertels. Als wenn das nicht genug wäre, versucht der Konzern die Umgestaltung unserer Städte auch noch durch eine Stiftung voranzutreiben. Diese berät Kommunen, wie sie möglichst effektiv die Innenstädte für den Profit der großen Kaufhausketten umgestalten können. In dieser Stiftung sitzen wie zufällig Stuttgarts OB, die Verkehrsministierin Tanja Gönner und die Freundin des ehemaligen Ministerpräsidenten.

Beispiel Daimler

Drei der bisherigen vier Bosse der Bahn AG waren vorher im Management von Daimlerfirmen. Alle drei trieben und treiben Stuttgart 21 voran, d.h. Zerstörung des Nahverkehrs, einseitige Förderung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs und Verhinderung der Verlagerung von Gütern auf die Schiene. Daimler spielt das natürlich alles in die Hände: Die Menschen sind für die Wege vor Ort aufs Auto angewiesen, für Fernreisen denkt man im Konzern über die Einführung von Fernbuslinien nach und mit den sogenannten Gigalinern möchte man ein neue LKW-Generation verkaufen.

Widerstand statt Politikverdrossenheit

Doch im Gegensatz zu der von der Kapitalseite zu verantwortenden Finanzkrise oder des Einsturzes des U-Bahnschachtes in Köln resignieren die Menschen angesichts der Planungen zu Stuttgart 21 nicht. Anstatt Politikverdrossenheit gibt es Widerstand. Neben dem Protest gegen den Abriss von Teilen des denkmalgeschützten Hauptbahnhofes oder gegen das Fällen von hunderten alter stadtklimatologisch wichtiger Bäume richtet sich die Wut vermehrt gegen die Politiker, die immer mehr an Glaubwürdigkeit verlieren. Durch die gemachten Erfahrungen in der Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“ wird nun für viele deutlich, dass sich die Interessen der Herrschenden nicht mit unseren Interessen decken.

Schülerstreik gegen Stuttgart 21

Die Massenbewegung gegen Stuttgart 21 hat von Anfang an auch Jugendliche angezogen. Dabei spielten verschiedene Motive eine Rolle. Natürlich treffen Verschlechterung des Nahverkehrs und Milliarden für die Reichen junge Menschen, da das Geld dann eben in der Bildung fehlt. Daneben sollen dem Projekt eine Reihe alternativer Kultureinrichtungen zum Opfer fallen: etwa eine Disko, oder die Wagenhallen, einem ehemaligen Bahngelände, das heute Künstlern und Bands Möglichkeiten zu proben bietet, wo aber auch Konzerte veranstaltet werden. Im September beteiligten sich nach den guten Erfahrungen im Bildungsstreik 3000 Schülerinnen und Schüler an einem Streik gegen Stuttgart 21. Berühmtheit erlangte er, da just an diesem Tag die Herrschenden ein Exempel statuieren wollten und die bisher rein friedlichen Proteste und Blockade durch Polizeiterror versuchten zu spalten. Viele Schülerinnen und Schüler beteiligten sich an den Blockaden, um den Park an diesem Tag vor der Abholzung zu schützen. Mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern wurden 400 Menschen zum Teil schwer verletzt. Was jedoch nicht gelungen ist: die Bewegung zu spalten.

Wut wird zu Widerstand

Das Aufbegehren der Schwaben zeigt, dass die Friedhofsruhe im deutschen Imperialismus äußerst wacklig ist. Die weitverbreitete Wut über die Politik gegen die Bevölkerung kann an verschiedenen Punkten umschlagen. Wichtig ist, dass es eine Bewegung mit klaren Zielen gibt und mit einer Aktionsorientierung, die viele Menschen mitnimmt. In den fast 15 Jahren Widerstand gegen Stuttgart 21 begann es mit einer kleinen Initiative, die trotz Niederlagen dran geblieben ist. Dadurch gelang es die bis heute verbreitete Resignation zu überwinden und in Widerstand umzuwandeln. Heute gibt es für viele Menschen die Möglichkeit sich einzubringen. Von der Infoverbreitung, über Aufkleber anbringen zu Demos und zum gewaltfreien Widerstand. Entwickelt hat sich dadurch eine Kraft, die von einem einzelnen Aspekt des Widerstands nun die Frage der Demokratie stellt und stellen muss. Sie hat innerhalb des letzten Jahres enorm gelernt und kratzt immer mehr an den Grenzen des Kapitalismus und seiner bürgerlichen Demokratie.

Björn, Stuttgart

Dieser Artikel erschien in POSITION – Magazin der SDAJ #1/2011.

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