Theorie. Der deutsche Imperialismus verfolgt derzeit zwei Taktiken bei der Absicherung seiner Vormachtstellung in Europa. Beide bedeuten eine Zurückdrängung unserer demokratischen Rechte.
Die europäische Finanz- und Schuldenkrise hat im vergangenen Jahr zu einer regelrechten Flut an Essays, Manifesten und Strategiepapieren geführt, die einen Einblick auf die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union (EU) geben. Die Ausgangslage ist: Die Unzufriedenheit in den europäischen Ländern verstärkt sich, der Mangel an Legitimität der europäischen Institutionen wird zunehmend offenkundig. „Jeder weiß es“, so schrieb etwa der einflussreiche Soziologe Ulrich Beck, „aber es auszusprechen heißt ein Tabu zu brechen: Europa ist deutsch geworden“. Denn Deutschland – so schreibt er in seinem Buch „Das Deutsche Europa“ stellvertretend für das links-bürgerliche Lager – könne als stärkste Wirtschaftsmacht notleidenden Euro-Staaten die Bedingungen für weitere Kredite diktieren, was die demokratischen Mitbestimmungsrechte der Mitgliedsstaaten aushöhlt.
Interessant sind jedoch die Schlussfolgerungen, die aus dieser strukturellen Krise gezogen werden. Nicht die zunehmende Entmündigung bürgerlicher Parlamente, sondern deren Verteidiger gelten dem pro-europäischen Intellektuellen als Ursache für das Demokratiedefizit: Bornierte „Nationalstaatsorthodoxe“, die wichtige Integrationsschritte blockierten.
„Brüsseler Methodenstreit“
„Nationalstaatsorthodoxe“ gegen „Europaarchitekten“ – das ist eine aktuell weit verbreitete Gegenüberstellung, die die eigentlichen Gegensätze in Europa verschleiert. Hinter diesem „Brüsseler Methodenstreit“ verbirgt sich lediglich die Frage, wie die Wirtschafts- und Währungsunion zu stabilisieren sei: durch zwischenstaatliche Verträge oder eben durch die supranationalen Institutionen der EU. Gegenwärtig wird die wirtschaftliche Integration vornehmlich durch zwischenstaatliche Zusammenarbeit vorangetrieben: Fiskalpakt und Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) begründen internationale Verträge zwischen den Euro-Staaten an den Institutionen der EU vorbei.
Dabei spielt der deutsche Imperialismus zwar auf Grund seiner ökonomischen Stärke eine dominierende Rolle, ist aber deswegen kein Gegner der EU, im Gegenteil. „Deutschland setzte von Beginn an auf supranationale Verfahren“, schreibt Andreas Wehr rückblickend über die Geschichte der Europäischen Union, „da sich die deutschen Konzerne aufgrund ihrer Überlegenheit in einem weitgehend deregulierten europäischen Umfeld gut alleine behaupten konnten“. Dazu kommt, dass – nach dem Ende des deutschen Faschismus – die europäische Zusammenarbeit lange Zeit die einzig realistische Möglichkeit für das deutsche Kapital war, wieder die Weltmärkte zu erobern. Bundesaußenminister Westerwelle, der den deutschen Imperialismus durchaus als größten Gewinner der europäischen Integration sieht, ist daher im letzten Jahr mehrfach initiativ geworden, um der stagnierten politischen Integration neuen Schub zu geben. U.a. mit Vorschlägen für eine neue europäische Verfassung und eines europäischen Präsidenten, der direkt gewählt werden solle.
Demokratisieren?
Die Stärkung der Legitimität der europäischen Institutionen, gar die Entwicklung einer supranationalen politischen Union ist durchaus im Interesse des deutschen Finanzkapitals. „Um die europäischen Institutionen zu stärken, müssen wir ihre demokratische Legitimation erhöhen“, schreibt etwa der Vorstandsvorsitzende der Allianz SE. Liest man genauer, so erkennt man die Funktion eines neuen demokratischen Anstriches: Die Stärkung der Europäischen Union als politische Stabilisierung der wirtschaftlichen Integration, welche enorme soziale Verwerfungen mit sich bringt.
Weiter heißt es: „Der Transfer von Hoheitsrechten ist die größte Hürde auf dem Weg zu einem stärker integrierten Europa“. Gemeint ist damit die Abgabe noch bestehender Rechte der bürgerlichen Parlamente und der nationalstaatlichen Regulierungsmöglichkeiten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Bemäntelt wird dieses weitreichende Vorhaben mit Worten, die eine Umkehrung der „marktkonformen Fassadendemokratie“ in eine „sozialstaatliche Bürgerdemokratie“ suggerieren, wie es der Philosoph Jürgen Habermas in der SPD-Programmdebatte formuliert. Und noch etwas heftiger in dieselbe Kerbe schlagend, fordern der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der Vorsitzende der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, ein föderales Europa, also einen europäischen Bundesstaat.
Diese Ideologien bemänteln also einen Prozess, der dem Finanzkapital wesenseigen ist: Mit dem Übergang zum monopolistischen Kapitalismus entspricht dessen politischer Überbau Lenin zufolge der „Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion“. Auf die europäische Integration bezogen schreibt daher Andreas Wehr, dass diese „mit der Zurückdrängung der auf nationalstaatlicher Ebene erkämpften demokratischen Rechte“ untrennbar verbunden ist.
Sozial ergänzen?
Deswegen ist es auch nicht hilfreich, wenn namhafte Vorsitzende der DGB-Gewerkschaften einen Aufruf initiieren, der das „auf der Kippe stehende“ Projekt Europa mit einer „Demokratieoffensive“ und einer „neuen identitätstiftenden Leitidee“ versehen will. „Soll Europa eine Zukunft haben, muss aktiv um die Zustimmung und Zuneigung der Menschen geworben werden“, heißt es im Aufruf „Europa neu begründen“. Die ganz richtige Kritik an der sozialen Spaltung Europas, die ebenfalls formuliert wird, wird so zu einer positiven Bezugnahme auf die Europäische Union gewendet. Denn die EU soll zur „Transferunion“ weiterentwickelt werden, mit dem Ziel, „wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Raums abzubauen“. So erscheint die politische Union nicht als eine enorme Gefahr, sondern als eine Chance für die Linke – was prominente Mitglieder der Partei DIE.LINKE mitunter genau so formulieren.
Solidarität und Demokratie in Europa erwachsen jedoch nicht dadurch, die bestehende Politik der EU-Staats- und Regierungschefs sozial zu ergänzen. Sondern sie erwachsen aus der Stärke, die fortschrittliche Bewegungen in konsequenten Abwehrkämpfen um ihre sozialen und demokratischen Rechte gewinnen können.
Pablo, Marburg
Hintergrund
Wie ist die EU strukturiert?
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten bestimmen auf den regelmäßig stattfindenden EU-Gipfeltreffen die strategische Ausrichtung der EU. Dabei entspricht deren konstitutionelle Architektur, die im Wesentlichen aus dem Europäischen Parlament, der EU-Kommission und dem sog. EU-Ministerrat besteht, nicht einmal bürgerlich-demokratischen Maßstäben. Die EU-Kommission, deren Aufgaben am ehesten mit einer Regierung vergleichbar sind, verfügt über das alleinige Recht, Gesetze zur Abstimmung vorzulegen. Sie kann außerdem eigenständig einzelne Mitgliedsstaaten sanktionieren und unterliegt keiner demokratischen Kontrolle. Das Europäische Parlament kann die Kommission nur auffordern, im Rahmen der bestehenden EU-Verträge tätig zu werden. Die wichtigste Rolle zur Verabschiedung von Gesetzen liegt hingegen beim sog. EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten in der EU.
Leseempfehlung: Was ist die EU?
Eine Ausnahmeerscheinung gegenüber den Essays, Manifesten und Strategiepapieren des letzten Jahres war das Büchlein „Die Europäische Union“ von Andreas Wehr. Der Jurist und Mitarbeiter der linken Fraktion GUE/NGL im Europaparlament beschreibt auf 134 Seiten die Geschichte der Europäischen Union als ein Staatenbündnis, das unter deutscher Führung einen bislang unerreichten Grad an wirtschaftlicher und politischer Integration erreicht hat. Diese entspreche durchaus einer steigenden Vergesellschaftung der Produktion, so Wehr. Allerdings werde die EU von imperialistischen Staaten getragen, die „im Wettstreit untereinander nicht auf Kernbereiche ihrer Staatlichkeit verzichten können“. Die EU ist somit die Verwirklichung einer Idee des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayeks: Eine europäische Föderation, in der die Staaten „vertragliche Verpflichtungen zur Beendigung öffentlicher demokratischer Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik“ eingehen.
Andreas Wehr: „Die Europäische Union“. Basiswissen Politik, Geschichte, Ökonomie. PapyRossa Verlag, Köln, 2012.