Vor 100 Jahren brach der 1. Weltkrieg aus – was das mit dem Kapitalismus zu tun hatte, lernen wir in der Schule nicht.
Europa sei in den Krieg hineingeschlittert. Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger sei es zu einer Verkettung unglücklicher Umstände gekommen. So richtig habe den ersten Weltkrieg niemand gewollt, außer vielleicht ein paar irren Militärs im deutschen Generalstab. Ungefähr so, das erklären uns viele Schulbücher und Fernsehdokus, sei es zum ersten Weltkrieg gekommen.
Die SPD-Fraktion im Reichstag erklärte am 4. August 1914:
„Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecken feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“
„Neue, aufnahmefähige Absatzgebiete“
Der Schwerindustrielle August Thyssen beschrieb die Kriegsziele des deutschen Kapitals:
„Für das neue größere Deutschland wird sich die Notwendigkeit ergeben, für neue aufnahmefähige Absatzgebiete Sorge zu tragen. Diese gewaltige Aufgabe kann aber nur durch die Bildung eines großen mitteleuropäischen Zollvereins gelöst werden. Dieses Ziel wird sich nicht ohne Anwendung von Zwang erreichen lassen. Deutschland hat leider keine aufnahme- und entwicklungsfähigen Kolonien. Die Schaffung neuer aufnahmefähiger Absatzgebiete ergibt sich daher für Deutschland nach der Aufnahme der neuen industriereichen Gebiete (Anm.: durch Eroberungen) mit gebieterischer Notwendigkeit. Ein mitteleuropäischer Wirtschaftsbund, gestützt auf eine starke Flotte, würde nicht nur imstande sein, seine wirtschaftlichen Interessen auf dem Weltmarkte zu wahren, sondern auch eine sichere Gewährleistung für die dauernde Erhaltung des Friedens bieten können.“
„Die Dividenden steigen, die Proletarier fallen“
Rosa Luxemburg beschrieb 1916 in ihrer „Junius-Broschüre“ den Ausweg aus dem „Wahnwitz“:
„(Der Weltkrieg ist ein) tödlicher Streich gegen diejenige Kraft, die die Zukunft der Menschheit in ihrem Schoß trägt. Hier enthüllt der Kapitalismus seinen Totenschädel, hier verrät er, dass sein historisches Daseinsrecht verwirkt ist (…). Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. Und mit jedem sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab. Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Rußland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Krieg in der Luft
Das besagte Attentat auf Franz Ferdinand ereignete sich am 28. Juni 1914 im bosnischen Sarajevo. Österreich beschuldigte Serbien, dahinter zu stecken – die Regierung nutzte das Attentat, um seine Rechnungen mit dem serbischen Nationalismus zu begleichen und seine Machtposition in der Region zu sichern. Die österreichische Politik drängte Serbien gezielt in die Ecke und erklärte schließlich den Krieg. Es ist daher falsch zu glauben, das Attentat hätte eine Kette von Ereignissen zur Folge gehabt, die zwangsläufig zum Krieg führte. Der Krieg lag gewissermaßen schon in der Luft, als das Attentat den Anlass zum Losschlagen bot. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ist geprägt von diplomatischen Spannungen und militärischen Konflikten zwischen den imperialistischen Mächten Europas. Auf dem Balkan und in Nordafrika, zwischen Deutschland und Frankreich und im Fernen Osten – überall stießen die gegensätzlichen Interessen der imperialistischen Mächte aufeinander.
Zu spät gekommen
Das Deutsche Reich hatte erst relativ spät damit begonnen, Kolonien zu „erwerben“. Der größte Teil Afrikas, Asiens und Südamerikas war Ende des 19. Jahrhunderts bereits unter den großen Kolonialmächten aufgeteilt. Deutschland war der zu spät gekommene Imperialismus. Umso aggressiver wollten diejenigen Kreise in Deutschland vorgehen, die an der Errichtung eines großen deutschen Kolonialreiches interessiert waren. Diese wirtschaftlichen Interessen wurden von einer gewaltigen Welle des Nationalismus flankiert, reihenweise wurden reaktionäre Verbände gegründet. Meist von den Großunternehmen finanziert, forderten sie Aufrüstung und Eroberungen. „Wir verlangen unseren Platz an der Sonne“ – so brachte der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler von Bülow die Großmachtpolitik des deutschen Kapitals auf den Punkt.
Ein imperialistischer Krieg
Die deutsche Monopolbourgeoisie strebte ein großes zusammenhängendes Kolonialreich in Afrika an, wobei es vor allem um den Zugriff auf Bodenschätze ging. Außerdem war die Einverleibung der Bergbauregionen Belgiens ein wichtiges Kriegsziel. Darüber hinaus hegte man territoriale Ambitionen im östlichen Europa („Lebensraum“) und setzte sich – wie z.B. der Unternehmer August Thyssen – für die Schaffung eines großen mitteleuropäischen Zollvereins ein, um der deutschen Industrie den Absatz ihrer Produkte zu erleichtern. Die herrschenden Kreise in Deutschland betrachteten das britische Imperium als Hauptkonkurrenten des Deutschen Reiches. Vielen der verantwortlichen Politiker, Militärs und Industriellen war zwar bewusst, dass man England voraussichtlich militärisch nicht schlagen konnte. Aber sie hofften, die Briten zumindest so sehr zu schwächen, dass sie in Friedensverhandlungen zu Zugeständnissen bei der Neuverteilung einiger Kolonialgebiete gezwungen sein würden. Das war der Hintergrund, vor dem Lenin in seiner Imperialismus-Schrift klarmachte, dass „der Krieg von 1914 bis 1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der ‚Einflusssphären‘ des Finanzkapitals usw.“
In der Minderheit
Der Erste Weltkrieg verschlechterte die ohnehin schwierige Lage der Arbeiterklasse noch zusätzlich. Während in den Heimatländern der Hunger wuchs, litten die Soldaten an der Front, die ja schließlich auch in erster Linie dem Proletariat entstammten, am täglichen Grauen des Krieges. Der Anblick verwundeter, verstümmelter oder getöteter Kameraden, die Ungewissheit hinsichtlich der Angehörigen sowie der eigenen Zukunft, das Feuer in den Schützengräben – all dies nagte an den Nerven und ließ die Frage aufkommen: Wozu das alles? Nicht wenige erkannten die Sinnlosigkeit ihres Tuns. So kam es etwa an Weihnachten 1914 an den Frontlinien zur massenhaften Verbrüderung von englischen, französischen und deutschen Soldaten – einem besonders schweren Fall von militärischem Ungehorsam also.
Nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen europäischen Staaten stimmten die sozialdemokratischen Parteien dem Krieg zu. Allerdings wurden die Kriegsgegner in der SPD mit der Zeit zahlreicher. Sie sammelten sich in der „Gruppe Spartakus“ – unter ihnen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – und betrieben eine energische Antikriegsagitation. Allerdings gelang es ihnen nicht, die Mehrheit in der SPD zu erringen.
„Burgkrieg statt Burgfrieden!“
Der deutschen Sozialdemokratie kommt bei diesem historischen Versagen der Arbeiterbewegung eine besondere Bedeutung zu, da sie die stärkste Arbeiterpartei Europas war und ihr Schwenk auf Kriegskurs also die internationale Arbeiterbewegung besonders schwächte. Die SPD hatte einen „Burgfrieden“ mit der herrschenden Klasse geschlossen. Führende Sozialdemokraten vertraten die Ansicht, dass man den Krieg zwar nicht gewollt habe, nun aber, da der Krieg einmal da war, die „Verteidigung“ Deutschlands unterstützen müsse. Eine Niederlage, so meinte man, würde auch dem deutschen Proletariat schaden. Zu Recht wurde diese Position daher von Lenin und anderen KommunistInnen als „sozialchauvinistisch“ verurteilt. Damit ist gemeint, dass unter dem Mantel des Sozialismus tatsächlich der nationalistische, imperialistische Standpunkt eingenommen wird. Lenin vertrat hierbei die Ansicht, dass eine Niederlage bzw. eine Schwächung der bourgeoisen Regierungen der Arbeiterklasse nützlich sei. Ziel müsse es sein, so Lenin, den Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln und die Regierung zu stürzen. „In keinem Lande darf der Kampf gegen die eigene, am imperialistischen Krieg beteiligte Regierung vor der Möglichkeit haltmachen, dass dieses Land infolge der revolutionären Agitation eine Niederlage erleidet. Eine Niederlage der Regierungsarmee schwächt die betreffende Regierung, fördert die Befreiung der von ihr geknechteten Völkerschaften und erleichtert den Bürgerkrieg gegen die herrschende Klasse.“ Den antimilitaristischen Kräften in der Internationale war also klar, dass der Kampf für den Frieden gleichbedeutend war mit dem Kampf gegen die jeweils eigene Bourgeoisie.
Im eigenen Land
An diese Erkenntnisse anknüpfend gab Karl Liebknecht seine berühmte Losung aus: „Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! Diesen Feind im eigenen Land gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat anderer Länder.“ Der russischen Arbeiterklasse unter der Führung der Bolschewiki gelang es im November 1917, die bürgerliche Regierung zu stürzen, die Macht zu erobern und mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft zu beginnen. In anderen Ländern scheiterte die Revolution. Zwar bestand in Deutschland von Ende 1918 bis Januar 1919 eine revolutionäre Situation – Arbeiter- und Soldatenräte hatten sich gebildet und den bewaffneten Aufstand organisiert –, doch wurden die revolutionären Massen brutal unterdrückt und ihre wichtigsten Protagonisten auf der politischen Bühne, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ermordet. All dies geschah unter einer SPD-Regierung. Die Führung der Sozialdemokraten hatte sich mit den alten Kräften des Kaiserreichs in Militär und Wirtschaft verbündet, um die Revolution niederzuschlagen. Mitten in diesen Kämpfen, Ende Dezember 1918, gründeten die konsequenten Marxisten in Deutschland die KPD. Der Bruch mit den Opportunisten der Mehrheits-SPD, die Bildung der kommunistischen Partei – auch das war eine Schlussfolgerung aus den Ereignissen der Revolution.
Philipp und Lukas, Tübingen