Mit deutschen Elitestudenten in Kiew
Kiew, Ende August 2014. Zusammen mit 25 Studierenden aus Deutschland nehme ich an einer Stadtführung teil. Studierende einer Elite-Universität aus Kiew, die das Ziel haben, in den diplomatischen Dienst zu gehen, zeigen uns die Stadt. Am Maidan berichten sie von ihren Erfahrungen – von „brutaler Polizeigewalt“, von den „Scharfschützen des Janukowitsch-Regimes“, vom „ukrainischen Volk“, das gegen den „Despoten“ aufgestanden sei. Sie zeigen Bilder von leeren Flaschen, die sie zum Maidan gebracht haben, um damit Molotow-Cocktails zu bauen. Das Werfen haben sie natürlich anderen überlassen. Und immer wieder betonen sie: In der Ukraine gibt es keine Faschisten, die seien eine Erfindung Putins, wie so vieles andere auch. Das ukrainische Volk habe sich nun aber endlich von Russland gelöst. Nun müsse endlich die Nato kommen, damit der Krieg gewonnen werden kann.
Dass diese Geschichten von Menschen stammen, die es sich in Kiew leisten können, Zehntausende Euro im Jahr für ihr Studium zu bezahlen, ist nur einer Gründe, sich all das etwas genauer anzuschauen.
Studienstiftung
Auch von deutscher Seite handelt es sich nicht um irgendwelche Studierenden, sondern um Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie haben diese Reise organisiert. Diese Stiftung schreibt sich die „Begabtenförderung“ auf die Fahne, dementsprechend einheitlich waren die sozialen und politischen Hintergründe der Teilnehmer. Im Laufe einer Woche sollten wir uns mit Vertretern der deutschen Botschaft, politischen Stiftungen, mit Wirtschaftsberatern, Aktivisten des Maidan, Vertretern von Religionsgemeinschaften, der Delegation der europäischen Kommission, des ukrainischen Außenministeriums und anderen treffen, um uns ein „eigenes“ Bild der Lage in Kiew zu machen. Die deutsche Botschaft hat jegliche Veröffentlichung über ihre Aussagen untersagt – und sie hat gute Gründe dafür.
Faschismus und Krieg
„Ich denke schon, dass die Separatisten aus Russland alles Terroristen sind“, legt der Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) abschließend dar. Der Krieg gegen die Bevölkerung in der Ostukraine dauert, trotz vereinbarter Waffenruhe, an. Tausende Menschen sind dem Krieg bereits zum Opfer gefallen. Faschistische Bataillone zogen und ziehen mordend durch das Land. Die Putschregierung in Kiew hat einen umfassenden Apparat aufgebaut, um Lügen über den Krieg und ihre Politik zu verbreiten und von der wachsenden sozialen Not abzulenken.
„Die Faschisten sind eine Erfindung Russlands“ sind sich alle Stiftungen und staatlichen Vertreter in Kiew einig. Der Vertreter der KAS setzt sogar noch eins drauf: Der Holocaust sei in Russland nie richtig aufgearbeitet worden, folglich gebe es dort auch so ein „verklärtes Geschichtsbild“ und es würde so viel von Faschisten geredet. Das Massaker in Odessa wird so in der Wahrnehmung der TeilnehmerInnen der Reise zu einem „Brand in einer Lagerhalle“.
Abschließend liefern dt. Botschaft, Stiftungen und ukrainische Regierungsvertreter ihr Bild von der Entwicklungen in der Ukraine: Putin ist ein neuer Hitler – wahnsinnig und unberechenbar –, der sich immer mehr Länder unterordnen will. Dafür schickte er Terroristen in die Ostukraine, die nun „vernichtet“ werden müssen. Die KAS fasst zusammen: „Die Russen sind hinter unseren Werten“.
Doch manchmal kommt sie nicht um die Realität herum: „In der Ukraine wird ein privater Krieg geführt – der Staat könne die Militärverbände gar nicht hinreichend ausrüsten.“
Rechtsstaatlichkeit
Die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit ist ein inhaltlicher Schwerpunkt der KAS. Unter der Regierung Janukowitsch hätten sich Oligarchen Urteile kaufen können, insgesamt sei die Justiz nach wie vor durch Korruption geprägt. Das bestätigt auch Pfarrer Haska, ein deutscher evangelischer Pfarrer, der nach eigenen Angaben bereits in der DDR an der „friedlichen Revolution“ mitwirkte, in Kiew von Beginn an den „Euro-Maidan“ unterstützte. Außerdem ist er beliebter Gesprächspartner der bürgerlichen Presse in der BRD. Er fasst die Situation so zusammen: „Wenn man sich Gerichtsurteile kaufen kann, ist das Recht für diejenigen da, die genug Geld haben. Das gibt es in diesem Land immer noch.“ Die Putschistenregierung hat ein Verbotsverfahren gegen die Kommunistische Partei der Ukraine eingeleitet – ist das keine politische Justiz? Wir bekommen erklärt: Die KPU hatte in der Ostukraine immer am meisten Stimmen, das lässt darauf schließen, dass sie nun auch die „Separatisten“ praktisch unterstützt, was als Verbotsgrund ausreiche. So sieht das auch die um Rechtsstaatlichkeit bemühte KAS. „Diese Terroristen sind diejenigen, die höchstwahrscheinlich das Flugzeug MH-17 abgeschossen haben“, meint Haska. Und deshalb müsse man sie „beseitigen“, „vernichten“ – das ist der Tenor aller Treffen. Belege für die Anschuldigungen sucht man vergebens. Die KAS ließ verlauten: „Scharfschützen vom Maidan, Odessa, MH-17, man wird nie herausfinden, wer das war.“ Aber von offizieller Seite konnte man in Kiew erfahren, was der Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung nicht aussprechen wollte: Einzelne Scharfschützen seien ermittelt worden, Anklage wird jedoch nicht erhoben. Der Grund: Es würde Soldaten von der Front betreffen. Das Risiko, die Kampfmoral weiter zu schwächen oder sich gar mit den Faschisten anzulegen, will man offenbar nicht eingehen. Um die Front zu unterstützen, wurde eine Organisation gegründet, die Stahlhelme und Schutzwesten für die „Ostkämpfer“ zu sammeln. Pfarrer Haska unterstützt diese Organisation.
Wirtschaftsberatung
„Unterstützung aus Deutschland“ kommt nicht nur über Stiftungen und Pfarrer, sondern man ist auch beratend tätig. „Deutschland ist wirtschaftlich die Nummer 1 in diesem Spiel“, stellte der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums fest. Nur sah er darin nicht Ursache, sondern Lösung der enormen sozialen Not in der Ukraine.
Renten zwischen 70 und 100 Euro im Monat, Löhne oft in ähnlicher Höhe, steigende Preise, Arbeitsplatzabbau und die Angst vor einem kalten Winter wegen mangelnder Gasversorgung sind normal. Pfarrer Haska berichtet, dass seit mehr als zwei Monaten im öffentlichen Dienst keine Gehälter mehr ausgezahlt wurden. Alles Geld werde in „den notwendigen Kampf im Osten“ investiert, so der Pfarrer weiter. Er erzählt von einem Ärzteehepaar, dass ihm seine Situation geschildert habe. Kaum mehr als 100€ im Monat – zusammen. Der einzige kurzfristige Ausweg: Korruption – pro Behandlung wird ein „Trinkgeld“ verlangt.
Vertreter der deutschen Wirtschaft in der Ukraine und Wirtschaftsberater im Auftrag der Bundesregierung sollen der ukrainischen Wirtschaft auf die Sprünge helfen. Ihre Vorschläge: Umfassende Privatisierungen (hier sei Janukowitsch viel zu nachlässig gewesen), flexiblere Beschäftigungsverhältnisse und Abbau von sozialen Rechten. So gebe es in der Ukraine noch so „überkommene“ Rechte aus der Sowjetzeit wie das auf eine kostenlose Gesundheitsversorgung und ein umfassendes Arbeitsrecht zum Schutz der Beschäftigten. Deutsche Unternehmen könnten unter diesen Bedingungen nicht investieren, da man sich an das Gesetz halten wolle, unter diesen Bedingungen aber nicht könne. Gleichzeitig seien aber Löhne von im Schnitt bis zu 200 Euro sehr attraktiv. Die Beratungsgruppe tut ihr Bestes, um die Ukraine für ausländische Investoren vorzubereiten. Ihr Chef ist Dr. Ricardo Giucci. Auf die Frage, wie denn seine Maßnahmen (z. B. Kurzarbeit) mit der notwendigen Linderung der sozialen Not vereinbar seien, antwortet er: Darum gehe es bei der Kurzarbeit erst einmal nicht.
Imperialismus
„Wir müssen endlich handeln“, das war die erste Reaktion vieler Teilnehmer nach der erneuten Meldung einer angeblichen russischen Invasion. Es braucht mehr „Unterstützung“. In die gleiche Richtung ging der Vertreter der Europäischen Kommission: In Mali habe man mit dem französischen Eingreifen eine schnelle Lösung gefunden, im Einflussbereich Russlands sei das leider schwieriger – eine militärische Lösung sei eigentlich nötig. In dieser Woche wurde das Bild von der demokratischen, friedliebenden, wohlstandsschaffenden EU vermittelt, die sich gegen die russische Diktatur durchsetzen muss, um eine souveräne Ukraine zu schaffen. Der Vertreter der EU war hier nicht der einzige, der den Wunsch nach einem Eingreifen der NATO äußerte. Der Fall Ukraine ist ein Lehrstück: Zehntausende Menschen gehen auf die Straße, teils mit durchaus berechtigten sozialen Forderungen, aber ohne eigene Organisation. Die verschiedenen imperialistischen Staaten, insbesondere Deutschland über die EU und die USA, nutzen die Gunst der Stunde und lenken mit Stiftungen, „NGOs“, mit direkter Gewalt und faschistischen Organisationen den Protest in ihrem Sinne. Dabei gehen sie nicht einheitlich vor. Das gemeinsame Interesse, die Ukraine aus russischem Einflussbereich zu lösen, tritt in dem Moment zurück, in dem es bereits um eine Neuaufteilung der Beute unter den westlichen imperialistischen Staaten geht. Dabei ist Russland nicht weniger eine imperialistische Macht. Nur: Russland ist nicht der Aggressor in diesem Konflikt.
Max, Frankfurt