Hintergrund: Kapitalismus macht krank und verdient daran Geld
Gesundheit und Kapitalismus, das scheint erst einmal kein Widerspruch zu sein. Schließlich hat sich erst mit der Herausbildung kapitalistischer Nationen eine flächendeckende medizinische Versorgung entwickelt. In der Tat gibt es einen Zusammenhang von kapitalistischer Produktionsweise und staatlicher Gesundheitsversorgung. Diese Systeme sind keine Almosen des Staates an die Bevölkerung, sondern erfüllen eine überlebenswichtige Funktion für die Wirtschaft: Der Staat garantiert durch entsprechende Gesetzgebung eine gewisse medizinische Mindestversorgung, die, zumindest in Deutschland, durch die gesetzliche Krankenversicherung prinzipiell für alle zugänglich ist. Damit sorgt er dafür, dass Kranke so schnell wie möglich wieder fit für die Arbeit werden. Nicht die Vermeidung von Leiden oder die Heilung sind das Ziel, sondern die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Arbeitskraft.
Gesundheit als Ware
Im Kapitalismus wird jede Dienstleistung – also auch die medizinische Versorgung – zur Ware. Forderungen wie „Gesundheit darf keine Ware sein“ klingen zwar nett, gehen aber völlig an der gesellschaftlichen Realität vorbei. Die Gesundheitswirtschaft ist ein Multi-Milliardenmarkt. Allein in Deutschland betragen die Gesundheitskosten über 320 Mrd. Euro pro Jahr. Das allgemeine Interesse der deutschen Unternehmen an einer möglichst effizienten Wiederherstellung der Arbeitskraft schafft einen Markt für Unternehmen, die an dieser Wiederherstellung verdienen (z.B. die Pharmaindustrie oder private Krankenhausbetreiber wie Helios). Aus ihrer Sicht sind Kranke keine volkswirtschaftliche Belastung, sondern eine lebensnotwendige Ressource. Wie jedes Unternehmen müssen auch sie möglichst hohe Gewinne erzielen, um auf dem Markt bestehen zu können.
Das zentrale Interesse von Pharmakonzernen und privaten Klinikbetreibern besteht also darin, mit der Patientenversorgung möglichst viel Geld zu verdienen. Nur Medikamente, die sich profitabel an möglichst viele Menschen verkaufen lassen, werden entwickelt und auf den Markt gebracht. Zusammen mit dem Patentrecht, das ein neues Medikament für 20 Jahre schützt, ergibt dieses System ein riesiges Innovationshemmnis. Zum Beispiel werden enorme Anstrengungen unternommen, neue Wirkstoffe zu entwickeln, die genauso oder zumindest sehr ähnlich wirken wie schon bekannte Substanzen, um auslaufende Patente verlängern zu können. Schließlich lässt sich mit noch einem neuen Kopfschmerzpräparat ein viel größerer Markt bedienen, als mit einer Therapie für seltenere Erkrankungen. Während für solche Absurditäten genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, bleibt die Forschung auf der Strecke.
Der Kapitalismus macht uns krank
In den letzten Jahren flackert immer wieder die Diskussion über die gesundheitlichen Auswirkungen des Kapitalismus auf. Auch wenn sie oft in eine Debatte über die methodischen Stärken und Schwächen dieser oder jener Studie mündet, wirft sie ein Licht auf die schwer zu ignorierende Zunahme v.a. von psychischen Erkrankungen. Obwohl dort sicherlich viele Faktoren mit hinein spielen (z.B. mehr und differenziertere Diagnosen, gesellschaftliche Aufmerksamkeit, verschiedene Erhebungsmethoden usw.), zeigen epidemiologische Studien einen eindeutigen Trend: In den entwickelten Industrieländern sind psychische Erkrankungen mittlerweile mit Abstand die bedeutendsten „Volkskrankheiten“. Häufig wird dieser Tatsache mit dem zynischen Argument begegnet, es handele sich dabei um Luxuskrankheiten. Massenarbeitslosigkeit, Arbeitsverdichtung, Stress und die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse lassen sich aber nicht wegdiskutieren. Der Anstieg psychischer Erkrankungen ist keine Marotte einer verwöhnten Wohlstandsgesellschaft, sondern die reale Folge des Lebens in einer kapitalistischen Gesellschaft, die uns in ständige Konkurrenz untereinander zwingt.
Kämpfen lohnt sich
Gesundheit und Kapitalismus – das ist also doch ein Widerspruch. Nicht nur hemmt die kapitalistische Produktionsweise inzwischen die Forschung und Entwicklung, das Leben im Kapitalismus selbst ist gesundheitsschädlich. Trotzdem gibt es auch innerhalb des Gesundheitssystems eines kapitalistischen Landes Spielräume. Die deutsche Gesundheitsversorgung geht z.B. weit über das für den bloßen Erhalt der Arbeitskraft notwendige Maß hinaus. Errungenschaften wie die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden durch die Arbeiterbewegung hart erkämpft. In den letzten 20 Jahren wurden aber viele dieser Errungenschaften zunichte gemacht. Mit der Agenda 2010 wurden zahlreiche Leistungen aus dem Katalog der GKV gestrichen und die Arbeitgeber bei der Finanzierung entlastet. Zudem wurde eine regelrechte Privatisierungswelle losgetreten. Rund 30% aller Krankenhäuser befinden sich inzwischen in Privatbesitz, doch auch die öffentlich finanzierten Häuser sind durch die Einführung der Fallpauschale inzwischen gezwungen, die Aufenthaltszeiten der Patienten und die Personalkosten drastisch zu kürzen. Gegen diese Angriffe auf unsere Gesundheitsversorgung lohnt es sich, aktiv zu werden. Dass Verbesserungen möglich sind, zeigt z.B. die Durchsetzung einer Mindestpersonalbemessung an der Berliner Charité.
Leon, Kiel