„Die objektive Logik der Klassenbeziehungen in Liebesdingen“ (POSITION #03/18)

veröffentlicht am: 5 Aug, 2018

Hintergrund: KommunistInnen und der politische Kampf um sexuelle Emanzipation

Was gesellschaftlich als ‚normal‘ bzw. als tolerierbar eingeschätzt wird, ist durch die vorherrschende Moral bestimmt. Bei Sex- und Sexual-Fragen sind diese oftmals durch kirchlich-geprägte, konservative und veralteten Moralvorstellungen geprägt. Das hat mit der Spaltungsfunktion veralteter Rollenbilder zu tun.
Friedrich Engels schreibt dazu: „Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral“. Doch auf der Seite welcher Klasse – der Besitzenden oder der Ausgebeuteten – steht die Moral? Fragen wir noch einmal Engels: „entweder rechtfertigte sie [Anm.: die Moral] die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten.“

Offener Umgang statt Spießermoral
Die vorherrschenden Moralvorstellungen sind ein Ausdruck realer politischer und sozialer Kräfteverhältnisse. Solange die Herrschenden sicher den Ton angeben können, dient die Moral dem Beibehalten der bestehenden Verhältnisse. Erhebt sich jedoch ein relevanter Teil der Gesellschaft mit Zielen, die die bisherige Ordnung in Frage stellen, so prägt das auch ihre Moral. Sie drückt nun eben „die Zukunftsinteressen der Unterdrückten“ aus.
Die Zukunftsvision der Kommunisten drückte Karl Marx wie folgt aus: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“. In dem diese Bewegung gegen die alte Ordnung rebelliert, zeigt sie den Weg in eine neue Gesellschaft auf. Die Bewegung für soziale Emanzipation und für den Kommunismus bildet damit den Ausgangspunkt, von dem ein unverklemmter Umgang mit Sexualität ausgehen kann.
Dieser unverklemmte Umgang ist Grundbedingung für die Reflexion der eigenen Bedürfnisse und des eigenen Handelns. Während die bürgerliche Moral lehrt, genau darüber zu schweigen, forderte Engels schon vor 135 Jahren, dass die „Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichem, unentbehrlichen und äußert vergnüglichen Dingen“ endlich „unbefangen zu sprechen“.

Arbeiterbewegung und Homosexuelle
Unbefangen über ihre abweichende Sexualität gesprochen haben Anfang des 20. Jahrhunderts einige Aktivisten im Umfeld der Arbeiterbewegung in Deutschland. Zu den bekanntesten zählt wohl Markus Hirschfeld, welcher in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft leitete. Der Kampf um die Moral spielte zu dieser Zeit eine große Rolle, schließlich gab es auch innerhalb der Arbeiterbewegung große Vorbehalte gegen sexuell Andersartige. Teilweise wurde Homosexualität als reiche Dekadenz eingeordnet, wurde die besitzende Klasse als Homosexuelle verspottet.
Es war dann die Kommunistische Partei (KPD), die sich nicht nur gegen solche Propagandakampagnen stellte, sondern die 1924 als erste und einzige Partei im Reichstag einen Antrag auf Abschaffung des Anti-Schwulen-Paragraphen § 175 einbrachte und sogar im Zuge der gesamten Strafrechtsreform Jahre später eine Mehrheit für die Abschaffung organisierte. Mit der Machtübertragung an die Faschisten war dieser Erfolg jedoch vergangen. Unter den Nazis wurde der § 175 noch verschärft, das Hirschfeld-Institut bereits im Mai 1933 von den Nazis geplündert und zerstört.
Hirschfeld war nicht nur in Deutschland aktiv, er war auch Vorsitzender der Weltliga für Sexualreform. Hier tauschte er sich u.a. mit Alexandra Kollontai aus. Kollontai wurde direkt nach der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 in Russland Volkskommissarin für soziale Fürsorge. Damit war sie die erste Ministerin der Welt und zwar in der jungen Sowjetunion.

Bestrafung oder Revolutionierung
Dort setzte die alleinerziehende Mutter durch, dass das Eherecht gelockert und der Mutterschutz verbessert wurde. Schwangerschaftsabbruch wurde legalisiert, 1922 dann auch homosexuelle Handlungen. Dabei waren diese Schritte nicht einfach ein abenteuerlicher Bruch mit allem bisher bestehenden. Vielmehr sollten sie „die objektive Logik der Klassenbeziehungen in Liebesdingen“ (Lenin) aufheben. Denn die Kommunisten gehen davon aus, dass sexuelle Emanzipation eine gesellschaftliche Frage ist. Das heißt aber auch, dass Schritte der sexuellen Befreiung innerhalb des kapitalistischen Gesellschaftssystems nicht über individuelle Lösungen, sondern über soziale Befreiung erlangt werden.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass nach der politischen Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus in der „Sowjetischen Besatzungszone“ über konkrete Schritte der Sexualreform im Strafrecht diskutiert wurde. Im Zuge des Vorhabens einer umfassenden Strafrechtsreform wurden viele Vorhaben verschoben und z.B. der Schwulenparagraph 175 in der vor-Nazi-Version aus der Weimarer Republik eingeführt. In Westdeutschland hingegen blieb die viel schlimmere Nazi-Version gültig. 1957 wird die Bestrafung von Homosexualität in der DDR defacto aufgehoben (ohne Streichung des Artikels). In der BRD wird 1969/73 die Weimarer Fassung des Artikels mit gesondertem Schutzalter eingeführt. 1980 ist es die SPD, die die vollständige Streichung verhindert, während das Ende der 80er in der DDR im Zuge einer Reform passiert.

Im Windschatten des Sozialismus
Auch die Frauenbewegung ist eng mit der Arbeiterbewegung verflochten. Der internationale Frauenkampftag am 8. März geht auf eine Initiative der zwei Kommunistinnen Clara Zetkin und Käthe Dunker zurück. Die Frauenbewegung der 1950er-Jahre war eine breite Front in West- und Ostdeutschland, in der viele kommunistisch gesinnte Frauen aktiv waren. Sie verbanden den Kampf um sexuelle Emanzipation mit dem Kampf um soziale Sicherheit und Befreiung. Sie kämpften in der BRD gegen Widerbewaffnung und NATO sowie für die rechtliche Gleichstellung der Frau.
In Westeuropa und Nordamerika entstehen in den 70er-Jahren vielfältige Bewegungen für sexuelle Emanzipation. Wichtige Punkte sind der SDS-Kongress 1968, die Stonewall-Riots 1969 in der Christopher Street, bei denen sich Schwule und Transen in den USA gegen die Polizei wehren oder auch die Kampagne „Ich habe abgetrieben“ von 1971, bei der sich hunderte Frauen öffentlich dazu bekennen eine (damals eben noch verbotene) Abtreibung vorgenommen zu haben. Damit haben sie gegen den Anti-Abtreibungsparagraphen 218 verstoßen. Die Kommunisten versuchten bereits in den 1920ern dieses Gesetz zu kippen, in der DDR galt der Paragraph nicht.

KommunistInnen an der Sexfront
In Westdeutschland gab es auch eine Demokratische Fraueninitiative, die an der Seite der DKP gegen § 218 kämpft, so wie Demokratische Lesben- und Schwuleninitiatve gegen § 175 kämpfte. Es war die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die als erste Partei in der Bundesrepublik eigene Forderungen für Nicht-homosexuelle Menschen aufstellt. Auch die SED beschloss ebenfalls auf ihrem XI. Parteitag entsprechende Positionen. Die SDAJ verbreitete zu dieser Zeit v.a. das legendäre Sex-Buch von Günter Amendt, in dem unabhängig von der bürgerlichen Spießermoral Aufklärung für Jugendliche angeboten wird.
Der damalige Vorsitzende unserer britischen Schwesterorganisation Mark Ashton gründete 1984 mit Freunden die Gruppe „Lesben und Schwule unterstützen die Bergarbeiter“, um praktische Solidarität zwischen ausgegrenzten und bekämpften Gruppen zu organisieren. Ihr gemeinsamer Kampf gegen die reaktionäre Thatcher-Regierung wurde vor ein paar Jahren unter dem Titel PRIDE verfilmt. Der gemeinsame Kampf der Bergarbeiter und der Homosexuellen führte dazu, dass der Gay Pride March in London 1985 von mehreren tausend Bergleuten mit Gewerkschaftsbannern und einem Transparent mit der Aufschrift „Miners support the Lesbians and Gays“ angeführt wurde. Ein Ausdruck gemeinsamer Empörung gegen die Herrschaft und gemeinsamer Zukunftsinteressen.

Und heute?
Heute lohnt es, sich den gesellschaftlichen Charakter des Kampfes an der Sexfront bewusst zu machen. Denn während im Namen von Frauenrechten imperialistische Kriege geführt werden, während Pro Köln oder die Bayerische CSU sich an Christopher-Street-Day-Paraden beteiligen, während ohne breiten gesellschaftlichen Kampf durch ein lockeres Merkel-Interview über Nacht die ‚Ehe für alle‘ eingeführt wird – während wir heute also scheinbar alle Rechte der Welt genießen, sind Frauenfeindlichkeit und Homophobie noch lange nicht überwunden.
Denn solange es soziale Ungleichheit gibt, reproduziert sich diese entlang der alten Spaltungslinien. Der Kampf um sexuelle Befreiung muss also auch diese sozialen Spaltungsmuster und die ihnen zugrunde liegende kapitalistische Profitlogik bekämpfen.

[Mark, München]

Dieser Artikel erschien in
POSITION #3/2018
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