Krise in Venezuela

veröffentlicht am: 2 Mai, 2019
Wie geht es weiter nach dem missglückten Putsch gegen die gewählte Regierung? Wir haben uns mit
Igor von der Kommunistischen Jugend Venezuelas unterhalten.

 

POSITION: In den deutschen Medien heißt es Venezuela sei eine Diktatur. Bestätigt die Aufhebung der Immunität des Oppositionspolitikers Guaidó nicht diese Aussage?

Igor: Man muss die Sachen im Zusammenhang betrachten. Seit dem Beginn des bolivarianischen Prozesses, hat es in Venezuela eine ganze Reihe demokratischer Reformen gegeben. Dadurch verfügt das venezolanische Volk über deutlich mehr Einfluss und Verantwortung für die Regierungsarbeit und das auf verschiedenen Ebenen. Die Verfassung garantiert ganz grundlegend regelmäßige Wahlen, angefangen auf der kommunalen Ebene bis hinauf zum Präsidentenamt. In diesen Wahlen haben in den vergangenen Jahren verschiedenste Kräfte teilgenommen, rechte wie linke – jeweils mit mehreren Kandidaten. Die linken Kräfte sind allerdings mittlerweile im „patriotischen Pol“ vereinigt und sind mit einem gemeinsamen Kandidaten, nämlich Nikolas Maduro, angetreten. Das war auch bei den letzten Wahlen im Mai 2018 so. Wie immer, waren auch bei dieser Wahl internationale Wahlbeobachter anwesend. Der ganze Prozess ist in höchstem Maße transparent. Auch bei der automatischen Auszählung der Stimmen kann auf jeder Ebene transparent alles überprüft und kontrolliert werden. Das ist selbstverständlich auch für die Opposition möglich. Bei der Wahl hat ein Teil der Opposition nicht teilgenommen. Es ist eben dieser Teil der Opposition, der eingebunden ist in die Pläne des nordamerikanischen und europäischen Imperialismus gegen Venezuela. Zwei große Parteien der Opposition haben allerdings schon ganz regulär mit Kandidaten an der Wahl teilgenommen. Außerdem gab es auch noch parteilose Kandidaten und Initiativen. Die Opposition hat bei dieser Wahl rund 3 Millionen Stimmen bekommen. Deswegen ist Maduro ein demokratisch gewählter Präsident und es ist schon einigermaßen verrückt ihn als Diktator zu bezeichnen. Es gibt aktuelle aber ein Interesse des Imperialismus im Land ein Klima der Unruhe und Gewalt zu schaffen und Maduro zu delegitimieren.

Guaidó wurde 2015 als Abgeordneter ins Parlament gewählt. Bei dieser Wahl hat die Opposition gewonnenen. Das haben wir akzeptiert und das Wahlergebnis von 2015 anerkannt. Aber was ist dann passiert? Direkt nach der Wahl hat die Opposition diese Situation ausgenutzt und Gesetze verabschiedet, die offensichtlich gegen unsere Verfassung verstoßen oder verdrehen den Sinn der Artikel. Zum Beispiel sieht die Verfassung das Amt des Übergangspräsidenten tatsächlich vor. Das ist wahr. Sie sieht es allerdings nur für ganz bestimmte Fälle vor, nämlich dann, wenn der gewählte Präsident sein Amt nicht mehr ausüben kann. Präsident Maduro ist allerdings sehr wohl in der Lage sein Amt auszuüben. Mit seiner Politik muss man nicht einverstanden sein, aber das ist ein Fakt. Die Opposition meint, sie könne das einfach selbst festlegen. Ihre „Interpretation“ steht dabei im Gegensatz zu der des Verfassungsgerichts.

Außerdem gab es im Wahlprozess Unregelmäßigkeiten im Bundestaat Amazonas, die offiziell überprüft wurden. Dabei kam heraus, dass die Wahl von einigen Abgeordneten annulliert werden musste – sowohl bei einigen der Opposition, als auch bei Abgeordneten des Regierungslagers. Deswegen ist das Parlament derzeit eigentlich nicht beschlussfähig, weil diese Abgeordneten zum Teil trotzdem vereidigt wurden. Das heißt im Parlament sitzen nicht gewählte Leute, die vereidigt wurden und mit abstimmen. Deswegen haben die Beschlüsse des Parlaments derzeit keine Gesetzeskraft. Deswegen hat der höchste Gerichtshof eine Untersuchung angeordnet, die eben die Beschlussunfähigkeit des Parlaments festgestellt hat.

Auf diese Niederlage ließ die Opposition eine Phase der Gewalt folgen. Das waren die sogenannten „Guarimbas“. Wir erlebten von Februar bis Mai 2017 eine Phase schlimmer Gewalt. Daher hat der Präsident Maduro die Verfassungsgebende Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente) einberufen, die derzeit ihre verfassungsmäßige Rolle wahrnimmt und Gesetze erlässt.

Aber eigentlich hattet ihr nach Juan Guaidó gefragt. Guaidó hat sich selbst zum Präsidenten ernannt. Wenn wir uns die Gesetzeslage in den meisten Ländern der Welt ansehen, kann man erkennen, dass es in der Regel nicht erlaubt ist, sich selbst zum Präsidenten zu ernennen und keinen demokratischen Wahlprozess zu durchlaufen. Für einen solchen Vorgang sind immer juristische Folgen vorgesehen, häufig hohe Gefängnisstrafen. Das ist auch in Venezuela so. Auch weil er Abgeordneter des Parlaments ist, ist das ist im Fall von Guaidó, bisher nicht passiert, eben weil man erst die Immunität aufheben muss, um einen gewählten Abgeordneten vor einem Gericht anklagen zu können. Außerdem begann Guaidó durch die sozialen Netzwerke und über andere Wege zur Rebellion aufzurufen. Auch das ist verboten.

Doch was geschah international? Der vom Volk mit Mehrheit gewählte Präsident Nicolas Maduro wurde von manchen Ländern nicht mehr anerkannt, stattdessen aber eine eben nicht zum Präsidenten gewählte Person. In diesem Prozess machen nur die mit dem Imperialismus alliierten Staaten mit. Währenddessen hat der Gerichtshof die Immunität Guaidó aufgehoben, damit er wegen Verrat am Vaterland angeklagt werden kann. Er ist jemand der für eine Militärintervention gegen unser Land wirbt.

 

POSITION: Man kann aber auch in den Medien lesen, dass das Volk hungert, es keine Grundlagenlebensmittel gibt etc.

Igor: Wir haben hier eine kapitalistische Krise. Genauer eine Krise des abhängigen venezolanischen Rentenkapitalismus. Das Erdöl spielt dabei die entscheidende Rolle, daraus wird etwa 80% des Nationaleinkommens generiert, deswegen gibt es eine starke Abhängigkeit von den Erdölpreisen. Die meisten anderen Produkte werden daher einfach durch die Erdöldevisen importiert, inklusive Lebensmittel und medizinische Produkte. Wir haben also ein reduziertes Niveau der Produktion, sowohl in der verarbeitenden Industrie als auch bei Lebensmitteln und allem anderen.

Zusätzlich gibt es Sanktionen gegen Venezuela von Seiten der USA. Sie üben massiven Druck auf andere Staaten aus, damit niemand mehr mit uns handelt. Darüber hinaus blockieren sie venezolanisches Eigentum in den Vereinigten Staaten, konkret Eigentum des venezolanischen Erdölunternehmens PdVSA in Form von Bankkapital und in Form der viertgrößten Tankstellenkette der USA Citgo. Großbritannien verweigert die Herausgabe von 31 Tonnen in London lagernden Goldes Venezuelas, Eigentum des venezolanischen Staates.

Auch deswegen brauchen wir einen Plan wie wir das Land entwickeln können, wie wir die Produktivkräfte unseres Landes entwickeln können und bei diesem Plan muss die Arbeiterklasse als wichtigste Produktivkraft eine entscheidende Rolle spielen. Wir beobachten mit großer Sorge, dass viele Unternehmen der Grundlangenversorgung weiterhin privat sind, so kann man das als Staat nicht organisieren. Dafür braucht es einen Plan.

 

POSITION: Also, es gibt eine Attacke des Imperialismus, aber es ist doch nicht so als würden von der Regierung keine Fehler gemacht, oder?

Igor: Logischerweise gibt es im bolivarianischen Prozess unterschiedliche politische Kräfte, z.B. nationalistische Kräfte, sozialistische, kommunistische und andere. Das ist ein politisch pluraler Prozesse, auch die Regierungspartei PSUV ist sehr heterogen. Es gibt Teile der Regierung, die versuchen diesen Prozess zu unterlaufen, weil sie eigene ökonomische Interessen verfolgen. Das kann zum Beispiel heißen, dass bestimmte staatliche Sektoren absichtlich schlecht gemanagt werden, um Bedingungen zu schaffen, die dann eine Privatisierung rechtfertigen, von der man über verschiedene Wege dann selbst profitiert.

Es gibt in Venezuela viele Bereiche, in denen das Volk schon eine gewisse Kontrolle erhalten hat, nicht vollständig und umfassend, aber teilweise. Es wird versucht diese Erfolge rückgängig zu machen. Es wurde zum Beispiel ein Anführer der Bauernbewegung, der auch Mitglied unserer Partei war, ermordet. Der hat im Bundesstaat Zulia dafür gekämpft, dass das Recht der Bauern auf Land auch verwirklicht wird. Schon Chavez hatte ein entsprechendes Gesetz erlassen. Aber es gab Kräfte im Landwirtschaftsministerium, die dafür gesorgt haben, dass die Bauern dieses ihnen zustehende Land nicht bekommen haben, sondern es den Großgrundbesitzern, die das Land nicht produktiv nutzen, um die Bevölkerung zu ernähren, zurückgegeben wurde.

Deswegen sagen wir, es wird entscheidend sein, wie gut sich die Arbeiterklasse selbst organsiert, wie gut sie mobilisieren kann, sich artikuliert, um sich in einer revolutionären Art und Weise zur Vorhut des Prozesses zu machen. Davon hängt es ab, ob man die Rechte des Volkes durchsetzen kann oder nicht.

 

POSITION: Was sind die Vorschläge und Forderungen der Kommunistischen Partei Venezuelas, der PCV?

Igor: Es gibt zwei Fronten des Kampfes, eine internationale und eine nationale. International geht es um die Verteidigung gegen den Angriff des Imperialismus. Dazu schlagen wir die Schaffung der breitestmöglichen patriotischen Volksfront vor. Wir versuchen daher überall in den Universitäten, an den Arbeitsplatzen und in den Vierteln patriotische Volksräte aufzubauen, als Grundeinheiten, die den antiimperialistischen Kampf aller patriotischen Schichten des Volkes führen. Die Stoßrichtung ist gegen den Imperialismus und die mit ihm verbündete rechte Opposition gerichtet.

Auf nationaler Ebene sprechen wir von einigen Forderungen, die das System des abhängigen Kapitalismus durchbrechen und die der Arbeiterklasse und den ärmeren Volksschichten nützen. Schon vor einiger Zeit haben wir eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die leider bisher nicht umgesetzt wurden, wie zum Beispiel die Reduktion und Abschaffung der 12%igen Mehrwertsteuer. Da diese Steuer auf alle Produkte erhoben wird, trifft sie die geringen Einkommen viel stärker. Ihre Abschaffung würde also insbesondere die Armen entlasten. Wir haben außerdem Vorschläge für einen Plan zur Entwicklung der Produktivkräfte des Landes. Dabei geht es nicht nur um Vorschläge, wie dieser oder jener Industriezweig oder das Bildungswesen gezielt und planmäßig entwickelt werden kann, es geht auch darum, dass die Arbeiterklasse selbst Leiterin dieses Prozesses sein muss. Darüber hinaus schlagen wir vor den venezolanischen Bankensektor zu nationalisieren. Das ist wichtig, weil der Bankensektor trotz Krise weiter wächst, mit Wachstumsraten von bis zu 15%. Das ist Privatkapital mit dem spekuliert wird. Damit wird die rechte Opposition finanziert anstatt es zum Wohle der Bevölkerung einzusetzen. Zusammengenommen sind das Vorschläge für eine notwendige „Vertiefung des bolivarischen Prozesses“, wie wir es nennen.

 

POSITION: Was macht die Regierung zurzeit, um die komplizierte Lage zu lösen?

Igor: Die Regierung hat einige ökonomische Maßnahmen ergriffen. Wir halten diese Maßnahmen für völlig unzureichend. Noch schlimmer, sie sie stehen an einigen Stellen den Interessen der Arbeiterklasse entgegen. Eine gute Maßnahme sind die lokalen Komitees für Versorgung und Produktion (Comité Local de Abastecimiento y Producción, kurz: CLAP). Das sind lokal organisierte Strukturen, die die vom venezolanischen Staat stark subventionierten Lebensmittel zu einem symbolischen Preis verteilen. Damit werden derzeit regelmäßig mindestens 2 Millionen Familien versorgt, mit steigender Tendenz. Nur mal zum Vergleich, die „humanitäre Hilfe“ die Juan Guaidó mit Hilfe von USA und EU verteilen wollte, hätte gerade mal für 5000 Personen gereicht. Jetzt gibt es den Vorschlag die Rationen dieser Lebensmittelunterstützung der Regierung zu verdoppeln. Das ist aus unserer Sicht nicht ausreichend, trotzdem ist es ein richtiger Schritt und es hilft der Bevölkerung sich selbst in den Komitees zu organisieren, was auch tatsächlich passiert. Das ist sehr wichtig. Ähnlich ist es im Bildungssystem: Jedes Kind erhält einmal im Jahr den dreifarbigen Rucksack (in den drei Nationalfarben), der Stifte, Papier und andere Materialien enthält. Auch das hilft Millionen Familien, die sonst Schwierigkeiten hätten, diese Materialien selbst zu kaufen.

 

POSITION: Einer der schwierigsten Aspekte ist der Energiesektor… Die Opposition sagt das Versagen der Regierung sei die Ursache, die Regierung sagt, dass es Sabotage des Imperialismus sei.

Igor: Unsere Energieversorgung ist im Süden des Landes konzentriert. Venezuela bezieht seine Energie fast vollständig aus Wasserkraft und wir exportieren sogar Strom nach Brasilien. Seit einigen Jahren investiert die Regierung in Wärmekraftwerke, um die Abhängigkeit von der Wasserkraft zu reduzieren. Leider sind die Anlagen zum Großteil noch nicht vollständig aufgebaut, weshalb sie noch nicht die gewünschte Menge Energie liefern. Gleichzeitig gibt es Teile der Opposition, die über die strukturellen Probleme bei der Energieversorgung Bescheid wissen und die einen Sabotageprozess initiierten. Das wird allerdings zurzeit noch offiziell untersucht, weshalb es noch keine konkreten Ergebnisse gibt. Wir gehen aber sehr sicher von Sabotage aus. Was dafür spricht, ist dass es nicht nur einen Angriff gab. Es gab mehrere, einer davon mit bewaffneten Personen, die versuchten sensible Bereiche der Kraftwerke zu zerstören. Das haben Arbeiter der Kraftwerke bestätigt, aber auch dieser Fall wird noch genauer untersucht und wir sollten die Ergebnisse abwarten.

Es gibt aber tatsächlich auch einfach Fehler auf Seiten der Regierung, die man erwähnen muss, zum Beispiel die mangelhafte Wartung der Anlagen. Das führt immer wieder zu kleineren Ausfällen in manchen Regionen. Das hat auch die Gewerkschaft bestätigt. Allerdings kann das nicht die Ursache für einen vollständigen Ausfall sein, wie wir ihn zuletzt hatten.

 

 

POSITION: Tagelang ohne Wasser und Strom, eine Inflation, die das Einkommen vor allem der Armen auffrisst, ständige Kriegsdrohungen… Wie kann ein Volk das aushalten?

Igor: Wir haben eine sehr lange Geschichte des Widerstands und des Kampfes. Unser Unabhängigkeitskampf dauert seit dem 19. Jahrhundert an und er war schon immer sehr opferreich. Die übergroße Mehrheit unseres Volkes stand und steht hinter diesem Prozess, den wir aufgrund des Befreiers Simon Bolivars, bolivarianischen Prozess nennen. Natürlich gibt es dabei auch kritische Stimmen, strukturelle Fehler der Regierung etc, aber in der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung existiert weiterhin eine Unterstützung für den Prozess. Seit dem Beginn dieser Entwicklung haben wir hier ein starkes antiimperialistisches Bewusstsein. Und Bolivar ist hier sehr präsent, daher ist auch der das Bewusstsein für die Unabhängigkeit, für den antiimperialistischen Kampf sehr präsent. Man darf nicht vergessen: Die aktuelle Situation ist kompliziert, das stimmt. Aber einfach war es in den letzten zwei Jahrzehnten nie und auch da haben wir unseren Prozess verteidigt. Und wir haben keine Angst, wir werden das auch weiterhin tun, das sollte niemanden überraschen.

 

Das Interview führte: Jan, Caracas

Dieser Artikel erschien in
POSITION #2/2019
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