70 Jahre Grundgesetz (POSITION #02/19)…

veröffentlicht am: 24 Mai, 2019

70 Jahre Grundgesetz (POSITION #02/19)
WAREN WIR NICHT SCHON MAL WEITER?

Der 8. Mai 1945 ist der Tag, der den Sieg der Roten Armee und der alliierten Streitkräfte über den deutschen Faschismus markiert. Besonders hohe Priorität hatte das Gedenken an diesen Tag bei den Regierenden in diesem Land noch nie. Doch dieses Jahr könnte es völlig in dem Trubel eines anderen Gedenktages untergehen. Denn auf den Tag genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, am 8. Mai 1949, wurde in dem von Frankreich, Großbritannien und den USA besetzten Teil Deutschlands das Grundgesetz verabschiedet. Es ist das zentrale Rechtsdokument, aus dem sich die grundlegende Ordnung des Staates ergibt. Ursprünglich nur als Provisorium gedacht, gilt es trotz unzähliger Änderungen im Kern noch heute. Der Tag der Verabschiedung war natürlich kein Zufall. Daher ist es weniger eine Ironie der Geschichte als bewusste Provokation, dass ausgerechnet am 8. Mai die Wiederherstellung des deutschen Imperialismus in Westdeutschland verfassungsrechtlich abgesegnet wurde. Denn trotz einiger fortschrittlicher Formulierungen wird die Macht der Banken und Konzerne als solche nicht angetastet. Da es aber dem weitverbreiteten Willen der Bevölkerung entsprach, jenes System, das in zwölf Jahre faschistische Barbarei mündete, nicht einfach wiederaufzubauen, verzichteten die Herrschenden lieber darauf, die Bürger zu beteiligen. Eine Volksabstimmung fand bis heute nicht statt.

DIE DDR-VERFASSUNG VON 1968
Das heißt aber nicht, dass die Menschen in Deutschland nie die Gelegenheit hatten, über die rechtliche Grundlage ihres Zusammenlebens selbst zu bestimmen. Denn während in der BRD mit den sog. Notstandsgesetzen die Rechte der Bevölkerung noch weiter eingeschränkt wurden, begann im Ostteil Deutschlands 1968 ein großer Diskussionsprozess um eine neue Verfassung. Die wirtschaftliche Macht lag in der DDR seit ihrer Gründung in den Händen des Staates. Nun berieten und kritisierten ca. 11 Millionen Bürger auf über 750.000 Veranstaltungen den Entwurf einer Verfassung, die dieser neuen Realität Rechnung tragen sollte. Nach einer Vielzahl von Vorschlägen und darauffolgenden Änderungen, stimmte die Bevölkerung der DDR schließlich am 6. April 1968 in einem Volksentscheid mit fast 95% ihrer neuen Verfassung zu. Doch unterschied sie sich nicht nur in ihrem Entstehungsprozess, sondern auch inhaltlich von ihrem Pendant in der BRD?

FREIHEIT UND IHRE VORAUSSETZUNGEN
Viele Freiheiten der Bürger werden durch beide Gesetzestexte garantiert, so z.B. das Recht, sich zu versammeln, seine Meinung frei zu äußern oder sich zu Vereinigungen zusammenzuschließen. Aber während das Grundgesetz im Wesentlichen dabei stehenbleibt festzulegen, was die Bürger alles tun dürfen, sichert die Verfassung der DDR ihnen auch das Recht zu, vom Staat das zu verlangen, was die Ausübung all der garantierten Freiheiten überhaupt erst möglich macht. Denn was nützt jemanden die Unverletzlichkeit seiner Wohnung, wenn dieser Mensch keine Wohnung besitzt? Wie viel ist die Meinungs- oder Pressefreiheit wert, wenn es kein Recht auf gute Bildung gibt und die Medien durch einige wenige Großkonzerne beherrscht werden? Und welcher Hohn besteht in dem Schutz der Berufsfreiheit für jemanden, der keine Arbeit hat, also wortwörtlich frei von einem Beruf ist?
In Art. 37 Abs. 1 der DDR-Verfassung heißt es: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie…“. Während wir heute darüber diskutieren, ob vielleicht die aggressivsten unter den Immobilienhaien (gegen Entschädigung!) enteignet werden sollten, gleichzeitig aber im ganzen Land Wohnungsnot herrscht und Obdachlosigkeit längst zum Alltag gehört, sollte man sich an diese Verfassung erinnern, die Wohnen als das anerkannte, was es ist: ein Menschenrecht, für dessen Realisierung die Gesellschaft Verantwortung trägt.

WESSEN WERKZEUG?
Auch das Recht auf Arbeit, Bildung, Gesundheitsschutz und Versorgung im Alter findet sich in der nunmehr in die Geschichtsbücher verbannten DDR-Verfassung. Im Grundgesetz sucht man nach diesen Rechten vergeblich. Doch die beiden Dokumente trennen nicht einzelne Abweichungen, sie unterscheiden sich in ihrem Wesen durch ein völlig anderes Verständnis vom Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Das Grundgesetz geht von einer grundsätzlichen Gegnerschaft des Einzelnen gegenüber dem Staat aus. Es schützt die Menschen vor Eingriffen seitens des Staates – als wäre dieser keine gesellschaftliche Organisation, die sie selbst geschaffen hätten! Freilich können wir Schutz vor dem Staat heute gut gebrauchen, aber nicht, weil dieser das Zusammenleben und die gegenseitigen Beziehungen in der Gesellschaft organisiert, sondern weil er es im Interesse der Kapitalisten und nicht für uns tut. Solange die Banken und Konzerne weiterhin die ökonomische Macht besitzen, bleibt die „Neutralität“ des Staates eine hohle Phrase. Die DDR-Verfassung legte demgegenüber in ihrem ersten Artikel fest, dass die DDR ein sozialistischer Staat ist und schuf damit die Voraussetzung dafür, dass der Staat kein Werkzeug in den Händen einiger Weniger, sondern der Mehrheit der Bevölkerung war. Und nur auf diesem Wege lassen sich die gesellschaftlichen Probleme unserer heutigen Zeit lösen.
Das Grundgesetz ist letztlich ein Kampffeld, auf dem wir für mehr Rechte streiten können und müssen. Aufgrund seiner Fokussierung auf individuelle Freiheiten werden wir dabei aber zwangsläufig auf Grenzen stoßen, sobald das System privater Profitmacherei auf Kosten der Gesellschaft als solches in Frage gestellt wird. Hierzu bräuchte es eine andere Verfassung, für die wir in unserer Geschichte praktischerweise ein gutes Vorbild haben.

[Daniel, Trier]

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Dieser Artikel erschien in
POSITION #2/2019
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