Proteste gegen zu schweres Mathe-Abitur führen zu mehr Leistungsdruck

veröffentlicht am: 28 Aug, 2019

Mehr als 100.000 SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen aus 11 Bundesländern haben sich in einer Online-Petition über die Schwierigkeit des diesjährigen Mathe-Abiturs beschwert. Die Aufgaben sind noch nicht öffentlich zugänglich, aber Korrektoren berichten, dass sie Stunden länger gebraucht haben als die Bearbeitungszeit der Schüler für die Lösung der Aufgaben – und das mit Lösungshinweisen, die den SchülerInnen nicht zur Verfügung standen. Deswegen waren die Proteste auch schon teilweise erfolgreich und in mehreren Bundesländern werden beklagte Prüfungen weniger streng bewertet. Alle Aufgaben über die es Beschwerden gab, stammen ganz oder teilweise aus dem zentralen, bundesweiten Pool an Abituraufgaben.

Die Kultusministerkonferenz reagierte darauf Anfang Juni in Berlin mit einem Beschluss, der die Situation für uns SchülerInnen weiter verschärfen wird. Bis 2024 soll es bei den Aufgaben aus dem zentralen Pool keine landesweiten Modifizierungsmöglichkeiten mehr geben. So soll sich einer bundesweiten Vergleichbarkeit des Abiturs stärker angenähert und die Studienplatzvergabe nach NC angeblich gerechter gestaltet werden. Derzeit müssen die Aufgaben aus dem zentralen Pool nicht genutzt werden. Aber natürlich ist es auch jetzt schon erstens weniger Arbeit und somit sind das Personaleinsparungen für die Bundesländer. Und zweitens zeigt das bereits jetzt einen politischen Trend in Richtung einer immer stärkeren, bundesweiten Zentralisierung des Abiturs.

Dieser Trend richtet sich gegen die Interessen der Schülerschaft und führt in keinem Fall zu mehr Gerechtigkeit. Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: Peter und Lisa kommen aus unterschiedlichen Bundesländern. Lisas Eltern haben studiert und verdienen relativ gut, Peters Eltern nicht. Weil in Peters Bundesland und an Peters Schule krasserer Lehrermangel herrscht, sitzt er oft mit 30 Leuten im Unterricht und die Lehrer haben nur wenig Zeit, sich um seine Fragen und Bedürfnisse zu kümmern. Außerdem führt der Lehrermangel zu erhöhten Burn-Out-Raten. Deswegen hatte Peter mehrere Monate keinen Englisch-Unterricht. Weil Peters Eltern Geringverdiener sind, besucht er eine Schule in einem sogenannten sozialen Brennpunkt. Diese wird kaputtgespart, weswegen im Naturwissenschaftsunterricht keine Experimente gemacht werden können und jeder Lehrer der kann, an eine renommiertere Schule geht. Außerdem haben Peters Eltern keine Zeit und nicht das Know-How, um ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Für Nachhilfe fehlt das Geld. Wenn die Eltern sich Sorgen machen, wie sie über die Runden kommen sollen, belastet ihn das sehr und lenkt ihn vom Lernen ab.

Etwas anders ist das alles bei Lisa: Sie sitzt immerhin nur mit 24 Leuten im Unterricht und der Unterricht fällt wesentlich seltener aus. Sie wohnt in einer besseren Gegend und besucht deswegen eine Schule mit gutem Ruf, an der es funktionierende Naturwissenschaftsräume und sogar Oberstufenräume zum ungestörten Lernen in den Freistunden gibt. An dieser Schule arbeiten viele LehrerInnen gerne und über den Förderverein kann die Schule sogar Extra-Vorbereitungskurse für das Abitur finanzieren. Das brauchen viele SchülerInnen aber gar nicht, weil die Eltern selber helfen und teure Crashkurse vor dem Abitur finanzieren. Deshalb sitzt Lisa in der Abivorbereitung nach der Schule noch dreimal die Woche extra lange in der Schule und prügelt sich die Lerninhalte rein – und weiß jetzt schon, dass sie 80% nach den Klausuren sofort wieder vergessen haben wird. Bulemielernen nennt man das: Schnell rein, schnell raus, dann weg.

Weder für Lisa, noch für Peter ist dieses Schulsystem ein Schlaraffenland. Aber diese unterschiedlichen Situationen zeigen, dass gleiche Abituraufgaben nicht zu höherer Gerechtigkeit bei der Studienplatzvergabe durch NC in diesem ungerechten Schulsystem führen.

Nebenbei sagt das Abitur nichts darüber aus, wie gut geeignet man für bestimmte Berufe oder Studiengänge ist. Denn das meiste hat man ohnehin kurz nach der Klausur wieder vergessen. Noten zeigen vor allem, wie gut deine Ausgangsbedingungen sind und wie gut du in Bulimielernen bist. Sie stellen keine sinnvolle Rückmeldung für uns da. Aber die großen Konzerne brauchen Noten, um uns möglichst einfach auszusortieren und uns dazu zu zwingen unter ätzenden Bedingungen Inhalte zu lernen, die uns nichts Nützen. Dann gewöhnen wir uns schon Mal dran, auch im Job Sachen machen zu müssen, die uns nichts bringen und auf die wir keine Lust haben. Nebenbei spalten sie, sodass jeder Einzelne sich darauf fokussiert, für einen Notenschnitt zu kämpfen, der für den Wunschstudiengang reicht statt gemeinsam und solidarisch für ein besseres Bildungssystem.

Bürgerliche Zeitungen bringen andere Erklärungen für die Beschwerden über das Mathe-Abitur: Sie sehen das Problem darin, dass das Gymnasium zu einer Masseneinrichtung geworden ist. Deshalb nimmt angeblich die Qualität der Abschlüsse und die Fähigkeiten der Abiturienten ab. Das ist schlicht und einfach falsch. Wie die letzten PISA- und IGLU-Studien beweisen, wird nicht nach Intelligenz, sondern nach sozialer Herkunft aussortiert. Also nimmt die Qualität nicht zwangsläufig ab, wenn mehr Leute Abitur machen. Diese Erklärung ist menschenverachtend. Denn doof geboren ist keiner und bei geeigneten Rahmenbedingungen kann jeder alles lernen. Bildung wird nicht schlechter, nur, weil mehr Leute etwas davon bekommen. Es wird auch nicht weniger in den Schulen vermittelt, sondern mehr. Die Prüfungsanforderungen und die Stoffdichte sind durch G8, Zentralabitur und geänderte Prüfungsvorschriften gestiegen. Es gibt keinen Beweis für die sinkende Qualität des Abiturs und der Abiturienten.

Allerdings ist auch ein Trugschluss, dass mehr Abiturienten mehr Gerechtigkeit bedeuten. Die Produktivkraftentwicklung und die Globalisierung führen dazu, dass die deutschen Unternehmen hier mehr Leute brauchen, die technische Prozesse ansatzweise verstehen und weniger Leute, die Hilfstätigkeiten ausüben. Dafür findet das Aussortieren jetzt eben eine Ebene später statt: Deine Zukunftsperspektive ist jetzt weniger gesichert, wenn du das Abitur hast. Die Frage ist, jetzt nicht mehr nur, ob du Abitur hast, sondern viel stärker, wie gut es ist. Jetzt wird noch mehr über NCs aussortiert und über Ausbildungsberufe, für die man immer öfter das Abitur braucht. Das ändert absolut nichts.

Es ist also vollkommen legitim, wenn sich SchülerInnen gegen zu schwere Matheprüfung wehren und kein Zeichen von Faulheit oder Dummheit. Schließlich wird hieran deutlich: immer mehr Zentralisierung heißt mehr Vergleichbarkeit, aber nicht zu unserem Nutzen und nicht mehr Gerechtigkeit. Weitere Zentralisierung der Prüfungen führt nur zu mehr Stress:
Für uns, weil wir vielleicht ganz andere Schwerpunkte im Unterricht hatten oder die Situation an unserer Schule nicht die Behandlung aller, prüfungsrelevanter Inhalte zulässt
Für die – eh schon zu wenige und dadurch überlasteten – Lehrkräfte
Und nützen tut es nur denjenigen, die wollen, dass wir das lernen, was wir müssen und nicht das, was uns interessiert, die uns möglichst gut vorsortiert haben wollen- das sind die Banken und Konzerne.

Aber genauso müssen wir uns gegen viele andere Sachen in diesem Schulsystem gemeinsam wehren. Ob Unterrichtsausfall verhindern, gemeinsam solidarisches Lernen ermöglichen oder Hausaufgabenregelungen ändern: Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir dem steigenden Leistungsdruck etwas entgegensetzen können – und müssen. All das sind aber nur kleine Änderungen an einem System, dass grundsätzlich nicht an unseren Interessen ausgerichtete ist. Um unter guten Bedingungen das lernen zu können, was uns etwas bringt, müssen wir etwas an dieser Gesellschaft ändern – und den Kapitalismus abschaffen.

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