Was die Herrschenden unter einer „demokratischen“ Gesellschaft verstehen
Medien, PolitikerInnen oder Talkshow-„ExpertInnen“ stellen in Zusammenhang mit Entwicklungen wie der sinkenden Mitgliedschaft in Parteien oder der im Vergleich zu den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geringeren Wahlbeteiligung in Deutschland gerne eine zunehmende „Politikverdrossenheit“ fest. In der Regel wird dabei nicht danach differenziert, ob jemand die bestehenden politischen Strukturen, z.B. Wahlen und Parteien, ablehnt, aber sich weiterhin gesellschaftlich engagiert, auf die Straße geht etc. oder ob jemand sich völlig ins Private zurückzieht und mit gesellschaftlichen Vorgängen nichts am Hut haben möchte. Verschwiegen wird natürlich auch, dass sich Politik im Kapitalismus immer an die ökonomischen Spielregeln zu halten, also allseitige Konkurrenz und Profitmaxime zu respektieren hat. Dass sich auf dieser Grundlage Menschen von politischen Parteien, dem Staat oder gar der Gesellschaft entfremden, kann an sich nicht überraschen. Wirkliche Veränderungen scheinen trotz Wahlrecht oder Versammlungsfreiheit insgesamt kaum möglich. Viele Menschen erkennen zwar an bestimmten Erscheinungen (Tote im Mittelmeer, unzureichender Klimaschutz, Wohnungsknappheit, Aufstieg rechter Kräfte), dass etwas grundlegend schiefläuft in unserer heutigen Gesellschaft. Es gelingt ihnen aber häufig nicht, dies in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang zu stellen. Wenn sich aber keine allgemeinpolitische Überzeugung bildet, findet auch politische Organisierung meist nicht statt und der Kampf für einzelne Verbesserungen wirkt wie ein Kampf gegen Windmühlen. Unzufriedenheit kann so schnell in Frustration oder Ohnmachtsgefühle umschlagen. Die Herrschenden befeuern diese Orientierungslosigkeit natürlich, indem sie mantraartig betonen, wie komplex die Welt sei, manchmal in einem Anflug von Ehrlichkeit verknüpft mit dem Hinweis, dass man die Politik deswegen doch lieber den Profis überlassen solle (Tipp von FDP-Chef Lindner).
Das Hauptproblem liegt gerade in dieser von Regierenden, Medien und Unternehmen geschürten Orientierungslosigkeit und damit einhergehenden Ohnmachtsgefühlen gerade vieler junger Menschen, nicht in einer allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen. Das zeigt nicht zuletzt die breite Resonanz auf das CDU-kritische Video des Youtubers „Rezo“. Zwar fördert die Konsum- und Wettbewerbslogik des Kapitalismus kontinuierlich eine Individualisierung der Gesellschaft, aber allein der Klimawandel zeigt jungen Menschen eindrücklich die Notwendigkeit von kollektivem Handeln und damit „Politik“.
Marktkonforme Demokraten
Doch wie stehen die Herrschenden grundsätzlich zu politischer Beteiligung und Mitbestimmung?
Am Anfang der Weimarer Republik tönte SPD-Reichspräsident Friedrich Ebert – kurz zuvor hatte er mit der Novemberrevolution den Versuch einer Demokratisierung von Staat und Wirtschaft blutig niedergeschlagen – vollmundig: „Demokratie braucht Demokraten“. Ungefähr ein halbes Jahrhundert später stößt der frisch gebackene Bundeskanzler Willy Brandt 1969 ins gleiche Horn und will „Mehr Demokratie wagen“. 2011 schließlich rutscht Kanzlerin Merkel in einem aufrichtigen Moment heraus, dass wir eine „marktkonforme Demokratie“ bräuchten. Was ist nun von alledem zu halten?
Zunächst muss festgehalten werden, dass Friedrich Ebert und Willy Brandt als Verteidiger der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in ihren Aussagen natürlich ebenso eine „marktkonforme“ Demokratie im Sinn hatten wie Frau Merkel. Und umgekehrt hat die Bundeskanzlerin sicher nichts dagegen, mehr marktkonforme Demokratie zu wagen oder würde der Aussage widersprechen, dass es in der bürgerlichen, d.h. den Profitinteressen einiger Weniger dienenden Demokratie auch bürgerliche (marktkonforme) Demokraten braucht. Die Herrschenden wollen zwar auf der einen Seite möglichst ohne Widersprüche oder gar Gegenwehr ihre Profite auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung machen. Andrerseits lässt sich dieses System aber umso besser als gerecht verkaufen, sprich legitimieren, desto mehr Menschen in seine politische Verwaltung eingebunden werden. Auf der Grundlage von Systemkonformität sind Kritik und Beteiligung also durchaus erwünscht. Wie schroff sich dies ändert, sobald diese Grundlage verlassen wird, hat uns der bereits erwähnte Willy Brandt beispielhaft gezeigt, als er einige Jahre nach seiner Demokratie-Rede mit dem sog. „Radikalenerlass“ Tausenden im öffentlichen Dienst beschäftigten Kommunisten die Existenzgrundlage nahm. Heute preisen die Regierenden von allen Dächern die Wichtigkeit von aktiver Teilnahme an „unserer Demokratie“, schränken mit der massiven Ausweitung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse (Online-Überwachung, Sicherungsgewahrsam, Aufenthaltsüberwachung) aber gleichzeitig unsere Rechte deutlich ein.
Integrieren oder kriminalisieren
Dieser Logik entspricht auch der unterschiedliche Umgang der Regierenden mit verschiedenen Arten von Kritik bzw. Protest, wie sich an aktuellen Entwicklungen beobachten lässt. Aktionen, die das Gewaltmonopol der Herrschenden in Frage stellen, wie z.B. antifaschistischen Blockaden, wird grundsätzlich feindschaftlich begegnet. Das gilt in weiten Teilen auch schon, wenn das Eigentumsrecht angetastet wird, wie das aggressive Vorgehen gegen Hausbesetzungen oder im Hambacher Forst zeigt. Widerstand gegen konkrete Vorhaben des Kapitals, wie die bundesweite Verschärfung der Polizeigesetze (was gleichzeitig eine Verteidigung demokratischer Rechte ist), wird zwar nicht aggressiv, aber klar ablehnend begegnet – das Maß uns zugestandener Rechte wollen die Herrschenden immer noch selbst bestimmen. Gegenüber Protesten, die in ihren Forderungen recht vage bleiben, wie „Fridays for Future“, herrscht prinzipiell Offenheit. Das bedeutet freilich nicht, dass die Proteste der SchülerInnen nicht unterstützenswert wären, ganz im Gegenteil, jedoch sehen die Vertreter des jetzigen Systems noch ihre Chance, die darin hervortretende Unzufriedenheit in systemkonforme Bahnen zu lenken. Wie verlogen dabei die Einbindungsversuche der Herrschenden sind, hat Merkel eindrücklich bewiesen, als sie die freitäglichen Schulstreiks zwar als „sehr gute Initiative“ lobte, es sich gleichzeitig aber nicht nehmen ließ, die Demos indirekt als Teil „hybrider Kriegsführung“ von Russland zu bezeichnen. Demonstrationen schließlich, welche die Pläne der Banken und Konzerne kaum berühren (Art.13/Uploadfilter) oder gar fördern („Pulse of Europe“), werden hingenommen bzw. unterstützt.
Letztlich hängt der Umgang von oben mit Kritik immer davon ab, wie hoch das Integrationspotential des jeweiligen Protests ist. Klassische Argumentationsmuster sind dann die Teilung von Protesten in „friedlich“ und „gewalttätig“ sowie die Gegenüberstellung von „demokratischen“, sprich systemkonformen, und verfassungsfeindlichen Positionen, worunter sowohl linke Systemkritik als auch (durchaus systemkonforme) rechte Hetze verstanden werden. „Marktkonforme“ Politik wird als einzig „demokratische“ dargestellt. Um Enttäuschung und Resignation aber auch schlichte Passivität angesichts dieser verlogenen Politik zu verhindern, muss das Ziel darin bestehen, die Kämpfe für mehr Rechte oder lebenswertere Zustände im jetzigen System zu nutzen, um vor allem junge Menschen aus dem Klammergriff der bürgerlichen Ideologie zu lösen und ihnen die Perspektive eines Systems zu vermitteln, das auf tatsächlicher, nicht am Markt, sondern den Bedürfnissen der Menschen orientierter Demokratie basiert. Oder in Eberts Worten: Der Kampf um wirkliche Demokratie braucht marktfeindliche Demokraten.
Daniel, Trier
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