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Kapitalismus auf schwedisch – das Land der missachteten und ausgeschlossenen Reichen?

veröffentlicht am: 5 Aug., 2020
Das Corona-Virus trifft auf die Reste eines einst vorbildlichen Gesundheitssystems

In den letzten Wochen und Monaten nahm Schweden einen ungewöhnlich prominenten Platz in den deutschen Medien ein. Dies war im Wesentlichen einem Umstand geschuldet: Dem schwedischen Sonderweg im Umgang mit dem Corona-Virus. Das skandinavische Land setzt im Kampf gegen die Pandemie auf weniger einschneidende Maßnahmen, Schulen bis zur 9. Klasse oder Restaurants blieben etwa durchgängig geöffnet. Relativ hohe Todeszahlen von mehr als 5500 Anfang Juli wecken berechtigte Zweifel an der Richtigkeit dieser Strategie. Ein Aspekt, der in der medialen Diskussion hierzulande selten eine Rolle spielt, aber für das Verständnis der auffallend milden Maßnahmen durchaus Relevanz hat, ist der Zustand des schwedischen Gesundheitssystems. Gemeinhin gilt Schweden als das Musterland eines Sozialstaates mit einer hervorragenden öffentlichen Daseinsvorsorge. Doch stimmt das (noch)?

Sozialismus ohne Krankenhausbetten?

Nicht erst seit einer umfangreichen „Studie“ der berühmt-berüchtigten Bertelsmann-Stiftung vom Juli letzten Jahres wird in Deutschland von Freunden marktwirtschaftlicher Gesundheitsversorgung das Märchen von der zu hohen Krankenhausdichte verbreitet. Bis zu zwei Drittel der derzeit betriebenen Einrichtungen könnten dichtgemacht werden, sie seien überflüssig und stünden einer effizienten Versorgung nur im Wege. Dass es den selbsterklärten „Experten“ dabei in Wirklichkeit um die Ökonomisierung von Krankenbehandlung zugunsten solch lästiger Dinge wie flächendeckender Grundversorgung, Geburtshilfe oder Kinderstationen geht, ist inzwischen weithin bekannt. Eher unbekannt ist aber, dass sich bei den Vorschlägen in aller Regel auf ein bestimmtes Vorbild bezogen wird: Schweden. Schweden? Das Schweden, das Bernie Sanders seinen WählerInnen nicht müde wird, als Inbegriff des Sozialismus zu verkaufen? Das Schweden, das auch (mehr oder weniger) Linken hierzulande gerne als eine Art Kapitalismus mit menschlichem Antlitz gilt? Tatsächlich hat Schweden die geringste Zahl an Krankenhausbetten in ganz Europa, pro 1000 Einwohner sind es gerade einmal 2,6. Schwedens Gesundheits- und Pflegesystem gilt als stark wettbewerbsorientiert, jedes vierte Krankenhaus wurde seit den 1990ern geschlossen, Pflegeeinrichtungen massiv privatisiert. Aber wie kommen dann so viele darauf, dass Schwedens Kapitalismus irgendwie besser wäre als der in Deutschland oder den USA? Ist da gar nichts dran?
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger konstatierte in den 1970ern, dass Schweden sich zu einem Land entwickelt habe, in dem die Reichen sich „überflüssig, missachtet und ausgeschlossen“ fühlten. Diese Worte, die in den Ohren eines vernünftig denkenden Menschen wie Musik klingen dürften, waren gewiss übertrieben, hatten aber tatsächlich einen wahren Kern. Der Spitzensteuersatz lag in diesen Jahren bei über 80 %. IKEA-Gründer Kamprad zog es vor, als reichster Mensch der Schweiz in die Jahrbücher einzugehen, als in seinem Heimatland Steuern zu zahlen. Hintergrund dieses Steuersystems war der extreme Einfluss der Sozialdemokratie in Schweden. 1938 haben die schwedischen Gewerkschaften mit dem „Abkommen von Saltsjöbaden“ ihr „Stinnes-Legien-Abkommen“ abgeschlossen, d.h. sie haben sich mit den Kapitalisten gegen etwas politischen Einfluss und finanzielle Zugeständnisse auf die Einstellung des Klassenkampfes geeinigt. Vor dem Hintergrund außergewöhnlich günstiger Umstände zur Kapitalakkumulation führte dies in den folgenden Jahrzehnten unter sozialdemokratischer Dauerregierung zu einem massiven Ausbau des Sozialstaats, von hervorragender Kinder- und Altenbetreuung bis zu einem umfassenden Sozial- und Gesundheitssystems. Bei einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von konstant um die 80 % und einer sozialdemokratischen Partei, die zeitweise 1,2 Millionen Mitglieder hatte (bei nicht einmal 10 Millionen EinwohnerInnen), musste das Kapital deutlich größere Zugeständnisse machen, als dies bspw. in Westdeutschland der Fall war, wo es bis in die 1970er ebenfalls zu einem Ausbau des Sozialstaates kam, dem noch heute einige „Linke“ nachtrauern. Davon, dass die schwedischen Kapitalisten keinen Profit machen konnten, kann allerdings trotzdem nicht die Rede sein. Die gewerkschaftliche Politik basierte auf dem Prinzip der „solidarischen Lohnpolitik“, deren Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ war. Dies verhinderte zwar im Wesentlichen die Entstehung eines Niedriglohnsektors, brachte aber für hochprofitable Unternehmen den Vorteil, dass sie verglichen mit ihrem Gewinn einen relativ geringen Lohn zahlen mussten. Nicht zuletzt diese Lohnstrategie führte auch zu einer extremen Monopolisierung des schwedischen Kapitals – Ende der 1970er arbeiteten 80 % der Gewerkschaftsmitglieder für gerade einmal zwanzig Unternehmen.
Der Burgfrieden zwischen Kapital und Arbeit funktionierte auf der Grundlage äußerst günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Zwei große Krisen in den 1970ern beendeten dann aber die Illusion eines begrabenen Klassenkampfes. Eine steigende Staatsverschuldung, die unaufhaltsame Integration Schwedens in einen beinharten globalisierten Konkurrenzkampf, massive Kapitalflucht und zunehmende Arbeitskämpfe zwangen die Akteure zum Handeln. Für die Herrschenden war die Richtung klar: 1985 wurde die strenge Regulation und Abschottung des nationalen Finanzmarktes endgültig aufgegeben, der Umsatz an der Stockholmer Börse sprang von fünf Mrd. Kronen 1980 auf 160 Mrd. Kronen 1985. Die Gewerkschaften setzten auf den Kampf um sog. „Arbeitnehmerfonds“ (siehe Kasten). Nachdem dieser verloren wurde, standen Angriffe auf die Eigentumsverhältnisse bei ihnen nie wieder auf der Agenda.

Capital unchained

Der gescheiterte „Sozialismusversuch“ der Gewerkschaften machte die Bahn frei für die Offensive des Kapitals – und das lässt sich bekanntlich nicht zweimal bitten. 1990 kam die „Steuerreform des Jahrhunderts“, in deren Rahmen die Steuerlast der Unternehmen sowie der Spitzensteuersatz fast halbiert und Erträge aus Aktien völlig von der Steuer befreit wurden. Mit leeren Kassen lässt sich ein Sozialstaat aber nur schlecht finanzieren: Der Anteil kommunal verwalteter Wohnungen in Stockholm sank in den 1990ern von 75% auf 45 %, die schon erwähnte Krankenbettenzahl lag noch 1990 bei immerhin 12,4 (1980: 15,2), zwanzig Jahre später ist nicht mal ein Fünftel hiervon übrig. Hinzu kam Arbeitslosigkeit in nie gekanntem Ausmaß: Nicht weniger als 1,8 Millionen Menschen – nahezu vierzig Prozent aller EinwohnerInnen zwischen 18 und 60 Jahren – waren in den 1990ern zumindest zeitweise als arbeitssuchend registriert.
Welche Rolle der katastrophale Zustand des Gesundheits- und Pflegesystems bei der Corona-Strategie der schwedischen Regierung spielte, lässt sich nur schwer sagen, unbedeutend wird er sicher nicht gewesen sein. Ansonsten scheint die Lehre aus dem „Schwedischen Modell“ des Kapitalismus deutlich zu sein: Ohne Sozialismus keine dauerhafte soziale Gerechtigkeit, ohne Revolution kein Sozialismus – und ohne revolutionäre Partei keine Revolution!

Dieser Text erscheint in der aktuellen Position – dem Magazin der SDAJ.

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