Zum Charakter der sog. „Hygienedemos“
Nach Wochen der Einschränkungen werden immer mehr Regeln gelockert, der „Lockdown“ ist mittlerweile schon länger Geschichte. Doch wochenlang konnte man neben den alltäglichen News zu Todes- und Infektionsraten jeden Samstag die sogenannten „Hygienedemos“ beobachten. Die Demos entwickelten ihre Mobilisierungskraft vor allem dadurch, dass sie ein Auffangbecken für auf unterschiedlichste Weise persönlich Betroffene boten. Das konnte der Senior sein, der seine Frau nicht mehr im Pflegeheim besuchen konnte, die Gastronomin, deren Restaurant vor der Pleite stand oder einfach eine Spinnerin, die davon überzeugt war, Corona sei eine Erfindung. Ob Attila Hildmann oder Ken Jebsen, schnell hatten Rechte und Corona-Leugner die Demos besetzt oder organisierten sie. Auffällig war dabei, dass die sozialen Folgen der Maßnahmen, die vor allem die Arbeiterklasse treffen, kaum eine Rolle spielten. Auch Forderungen nach einem bedarfsorientierten Gesundheitssystem, besser ausgestatteten Schulen oder einer Abschaffung der angeblich zur Krisenbewältigung vorübergehend abgeschafften Arbeitsrechte spielten keine Rolle. Ebenso wenig der Widerspruch zwischen den harten Einschränkungen im privaten Raum einerseits und der Aufrechterhaltung des Zwanges, seine Arbeitskraft zu verkaufen, andrerseits.
Linke attackieren, aber Corona-Leugner gewähren lassen
Stattdessen wurde das Virus als harmlos oder gar eine Erfindung abgetan. Die Organisatoren der Demos vertraten vor allem die Interessen ruinierter KleinbürgerInnen sowie von Teilen des Großkapitals, etwa der Fleischindustrie oder der Systemgastronomie, die sich nicht in dem Maße wie beispielsweise die Autoindustrie auf Staatshilfen verlassen konnten und gleichzeitig auf den Einsatz zahlreicher Arbeitskräfte auf engem Raum angewiesen waren. Eine Differenzierung zwischen sinnvollen und nicht sinnvollen Maßnahmen fand nicht statt, stattdessen wurde pauschal das Ende aller Beschränkungen gefordert. Dem Staat schien das recht zu sein. Während linke Demos, wie z.B. der Ostermarsch in Lüneburg oder der 1. Mai in Berlin von der Polizei attackiert wurden, durften die „Hygienedemos“ relativ ungestört agieren. Ihre Forderungen waren schließlich auch im Sinne der Banken und Konzerne, nämlich die nach Lockerung und Rückkehr zur Normalität. Wozu das führt, konnten wir in Gütersloh beobachten. Die Fließbänder müssen laufen, denn den Unternehmern geht es um Profit, die Gesundheit ihrer ArbeiterInnen spielt dabei keine Rolle. Momentan ist die Bewegung stark zusammengeschrumpft, es ist aber zu befürchten, dass bei neueren Einschränkungen die Demos wieder wachsen werden. Es liegt dann an uns, dass statt denen der Corona-Leugner, die Forderungen der SchülerInnen, Azubis und ArbeiterInnen im Vordergrund stehen.
Torben, Berlin
Dieser Artikel erscheint in der aktuellen Position, dem Magazin der SDAJ