Der utopische Sozialismus
Marx und Engels waren nicht die Ersten, die den Kapitalismus und seine Ungerechtigkeiten angriffen und ihm eine andere, freiere Gesellschaftsformation gegenüberstellten. Die brutale Ausbeutung und Verelendung der Arbeiterklasse im sich entwickelnden Kapitalismus brachte zahlreiche DenkerInnen hervor, die Entwürfe einer besseren Gesellschaft skizzierten.
Diese DenkerInnen werden „utopische Sozialisten“ genannt. Sie kritisierten das Elend der Arbeiterklasse scharf. Dem gegenüber stellten sie ihre eigenen Vorstellungen davon, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen könnte. Dabei appellierten sie oft direkt an die Kapitalisten und versuchten, diese von der moralischen Verwerflichkeit der Ausbeutung zu überzeugen. Sie erkannten die Arbeiterklasse lediglich als Opfer von Unterdrückung, aber nicht als die Klasse, die ihre eigene Unterdrückung überwinden muss, also nicht als revolutionäres Subjekt. Stark verkürzt gesagt: Die utopischen Sozialisten stellten ihre Ideale einfach in den Raum. Sie machten sich Gedanken über ihre Ziele aber nicht darum, wer sie durchsetzen sollte und wie der Weg dorthin aussehen müsste. In ihren Vorstellungen sollte allein die Überzeugung Aller von der Notwendigkeit einer besseren Welt zu einer einvernehmlichen Schaffung ebendieser führen.
Das heißt nicht, dass sich die Vertreter des utopischen Sozialismus nur auf das Reden und Schreiben beschränkten. Es gab konkrete Ansätze zur Umsetzung. Ein Beispiel war die „New Harmony“-Kommune, die Robert Owen 1825 als Modellprojekt in den USA gründete. Dort gab es deutlich bessere Arbeits- und Lebensbedingungen als andernorts. So gab es z.B. Programme zur Kindererziehung und verhältnismäßig kurze Arbeitszeiten. Trotz des anfangs starken Zuwachses an SiedlerInnen scheiterte „New Harmony“ bereits nach zwei Jahren. Einerseits war das Projekt wirtschaftlich nicht lebensfähig, andererseits konnten die SiedlerInnen ihr kapitalistisch geprägtes Bewusstsein nicht von heute auf morgen abwerfen. Schnell kam es zu Verteilungsstreitigkeiten und weiteren Konflikten, die innerhalb kurzer Zeit zu unüberwindlichen Zerwürfnissen führten. Die Owen’sche Konzeption von der bloßen Überzeugung durch das gute Beispiel scheiterte.
Von der Utopie zur Wissenschaft – Marxismus kontra Wohlfühl-Linke
Wir lernen daraus, dass schöne Ideale einer besseren Gesellschaft allein noch kein sinnvolles politisches Programm sind. Marx und Engels entwickelten erstmals eine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus und seiner revolutionären Überwindung. Dafür nutzten sie die Methode des dialektischen Materialismus. Dieser ermöglicht es, die Widersprüche zu erfassen, die Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung sind: Klassengegensätze. Im Kapitalismus ist der Hauptgegensatz der zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse.
Daraus ergibt sich jedoch noch nicht unmittelbar ein politisches Programm. Die dialektische Methode ist für uns ein Werkzeug zur Analyse der konkreten historischen Situation. Das bedeutet zum Beispiel die Beantwortung der folgenden Fragen:
- Wer sind die bestimmenden Kapitalisten in Deutschland?
- Wer ist der „Kern“ der Arbeiterklasse in Deutschland?
- Wie können wir diesen für den Kampf um den Sozialismus gewinnen?
- Welche Schritte müssen auf dem Weg zum Sozialismus gegangen werden?
- Welche Bündnisse mit anderen Klassen und Schichten muss die Arbeiterklasse dazu eingehen?
Aus den Antworten auf diese und viele andere Fragen leitet sich unsere langfristige Strategie und aus dieser wiederum unsere kurzfristigere Taktik auf dem Weg zum Sozialismus ab. Das Vorhandensein einer klaren Strategie und Taktik unterscheidet MarxistInnen von der „Wohlfül-Linken“, die sich etwa in linken Hochschulgruppen, der Grünen Jugend, etc. tummelt. MarxistInnen erkennen an, dass die Interessen der arbeitenden Menschen immer gegen die Interessen der Kapitaleigner durchgesetzt werden müssen. Sie erkennen an, dass der Kapitalismus nicht heil-reformiert werden kann und sehen gleichzeitig, dass der Kampf um Reformen innerhalb des Kapitalismus notwendig ist, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern und um in der Arbeiterklasse Kampferfahrung zu sammeln.
MarxistInnen haben den Anspruch, als „Avantgarde“ der Arbeiterklasse dazu beizutragen, dass diese ihre eigenen Interessen erkennt und für deren Durchsetzung gegen das Kapital kämpft. Das bedeutet konkret, in ökonomischen Kämpfen (wie etwa Tarifauseinandersetzungen) und politischen Bewegungen mitzuarbeiten und dafür zu sorgen, dass aus diesen Bewegungen langfristige Kämpfe entstehen, deren Forderungen über den Kapitalismus hinausweisen.
Die wissenschaftliche Weltanschauung- keine Glaskugel, sondern ein Werkzeug
Es gibt zahlreiche Beispiele für das Schicksal politischer Bewegungen ohne klare Strategie und Taktik. Aktuell lässt sich etwa an den zahleichen Initiativen für die Einführung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ (BGE) beobachten, wohin so etwas führt. Die BefürworterInnen eines BGE wollen die Missstände, die der Kapitalismus zwangsläufig mit sich führt, dadurch überwinden, jedem Menschen monatlich einen bestimmten Sockelbetrag zur Verfügung zu stellen. Dabei setzen sie in der Regel auf moralische Argumente („es wäre doch besser, wenn niemand arm sein müsste“) oder versuchen durch Modellprojekte zu beweisen, dass ein BGE selbst im kapitalistischen Rahmen zu mehr Produktivität und somit einer Verbesserung der Verwertungsbedingungen für das Kapital führt. Oft führt das zu einer kruden Mischung aus gefühlsmäßigem Antikapitalismus und Anbiederung an kapitalistische Kennziffern für Konkurrenzfähigkeit (also etwa höhere Arbeitsproduktivität).
Die Idee eines BGE ist dabei durchaus für viele Menschen attraktiv. Die Hoffnung, jedem Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen und die Arbeitenden von der Notwendigkeit prekäre Drecksjobs ausüben zu müssen, zu entbinden, hat eine hohe Anziehungskraft. Leider lassen die vorhandenen BGE-Konzepte außer Acht, dass ein echtes bedingungsloses Grundeinkommen dem Kapitalismus die Grundlage seiner Funktionsweise (nämlich den Zwang der Arbeiterklasse, ihre Arbeitskraft zu verkaufen) entziehen würde. Ein solches BGE, von dem tatsächlich ein würdiges Leben möglich wäre, ist mit einer kapitalistischen Wirtschaftsweise schlicht unvereinbar. Andere BGE-Varianten wären tatsächlich einfach eine Abschaffung von Sozialleistungen durch die Hintertür, indem sie Leistungen wie die Sozialversicherungen durch einen einzigen, vergleichsweise niedrigen Betrag bündeln. Den verschiedenen Verfechtern der sympathischen Varianten eines BGE ist gemeinsam, dass sie keine zutreffende Analyse der Ursache gesellschaftlicher Missstände und der Möglichkeit von deren Überwindung haben. Ähnlich wie die utopischen Sozialisten hoffen sie, Kapitalisten und Arbeitende gleichermaßen von ihrem Ideal einer besseren Gesellschaft überzeugen zu können. Damit sind sie zum Scheitern verurteilt.
Die Aufgabe der deutschen kommunistischen Bewegung ist es nun natürlich nicht, BGE-BefürworterInnen dies süffisant vorzuhalten und ihnen einfach unseren Masterplan zu servieren. Man wirft uns MarxistInnen häufig vor, wir hätten den Anspruch alles, inklusive dem zukünftigen Verlauf der Geschichte, konkret zu wissen und zu kennen. Das behaupten wir nicht. Was wir jedoch haben ist die marxistische Weltanschauung, die es uns als Werkzeug ermöglicht beispielsweise die hinter verschiedenen BGE-Konzepten stehenden Interessen zu erkennen, Anknüpfungspunkte für antikapitalistische Kämpfe zu erkennen und mögliche BündnispartnerInnen zu identifizieren. Gleichzeitig führt die Anwendung dieser Weltanschauung uns zu der Notwendigkeit, das auch zu tun und nicht nur vom Elfenbeinturm aus eine bessere Welt zu predigen.
Leon, Hamburg
Dieser Artikel erschien in der aktuellen Position, dem Magazin der SDAJ.