Im Kampf um Personal am Krankenhaus oder gegen zu viele Hausaufgaben an der Schule drängt sich die Beschäftigung mit Dialektik nicht unbedingt auf. Und selbst wenn man sie als wertvolles Werkzeug im Kampf für ein anderes Gesellschaftssystem begreift, ist nicht unbedingt klar, warum sie auch in den Naturwissenschaften brauchbar sein sollte. Genau in diese Kerbe haben Marxismus-Kritiker oft genug geschlagen, indem sie die Dialektik entweder auf ihre Funktion als nützliche Denkmethode reduzieren, ohne dialektische Strukturen in der Welt anzuerkennen, oder ihren Geltungsbereich auf die Gesellschaft zu beschränken.
Dialektik außerhalb des Kopfes
In der Naturwissenschaft gibt es genügend Beispiele, die zeigen, wie man mithilfe der Dialektik zu einem besseren Verständnis der Welt kommt. Das beginnt bereits dann, wenn wir die die Bewegung von Planeten um die Sonne mit dem Gegensatz von Attraktion und Repulsion erklären, also Anziehung und Abstoßung. Im Werk „Dialektik der Natur“ deutet Engels zudem bereits viele Theorien an, die erst später von den Naturwissenschaften entwickelt werden sollten: Beispielsweise erläutert er lange vor Einsteins Relativitätstheorie, dass Materie und Bewegung untrennbar miteinander verbunden sind. Die Formel E = mc², in der sich dieser Zusammenhang ausdrückt, ist heute so bekannt, dass sie sich auf T-Shirts und Tassen wiederfindet.
Dialektisch denken heißt die Welt in ihrem Werden zu begreifen. Das bedeutet, ihre Widersprüche zu analysieren und diese als Motor der Entwicklung zu verstehen. Für Marx und Engels war die Dialektik auch – aber eben nicht nur – eine Erkenntnismethode, gerade weil sie die Welt selbst für dialektisch strukturiert hielten. Erfassen können wir diese Strukturen, weil auch wir in dieser Welt entstanden und damit Teil von ihr sind.
Bewegung ohne Gesetze?
Einige Kritiker hingegen betrachten die Dialektik als etwas vom Menschen Hervorgebrachtes, das nicht in der Natur gelte. Das behaupten beispielsweise die Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule wie Adorno oder Horkheimer. So lösen sie den Menschen aus seinen natürlichen Grundlagen, überhöhen das Subjekt und machen die Natur zu etwas letztlich Unbegreiflichen. Damit greifen sie zwei Grundannahmen des Marxismus an: die der Welt als Einheit und die des Menschen als Naturwesen.
Für Marx und Engels ist der Mensch nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein natürliches Wesen. Engels Version des Marxschen Entwicklungsgesetzes der menschlichen Geschichte, nämlich „dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können“, zeigt, wie eng gesellschaftliche Entwicklung mit den natürlichen Grundlagen zusammenhängt.
Mit der „Dialektik der Natur“ wollte Engels zeigen, inwiefern in Natur und Gesellschaft die gleichen dialektischen Gesetze gelten und es ist sein Verdienst, hier wichtige Grundlagen erarbeitet zu haben. Wer diese Idee hingegen angreift, spricht uns die Möglichkeit zur Welterkenntnis ab und damit letztlich auch die Fähigkeit, sie zu verändern.
Lena Kreymann
Dieser Artikel erschien in der aktuellen Position, dem Magazin der SDAJ.