Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?
Über die Propaganda der Herrschenden
Es geschieht so viel in der Welt, dass es nicht annähernd möglich ist, die Hintergründe bestimmter Vorgänge sofort einschätzen und sich eine eigene Meinung bilden zu können. Was hat es mit dem Atomabkommen zwischen dem Iran und den westlichen Staaten auf sich, was mit dem Ausschluss Huaweis von der Vergabe bei 5G-Lizenzen, der Blockade Venezuelas, dem Konflikt in Libyen, dem Bundeswehreinsatz in Mali – an Ereignissen, deren Bedeutung sich nicht auf den ersten Blick erschließt, mangelt es wahrlich nicht. Es mangelt aber auch nicht an „Faktenfindern“, an (vermeintlich) objektiven, seriösen Medien, an „auf wahren Begebenheiten“ beruhenden Büchern, Filmen und Serien. Und im Zweifel erinnert man sich vielleicht noch an den Schulunterricht und wenigstens der wird ja wohl objektiv gewesen sein. Oder etwa nicht? Wie weit ist es her mit der Objektivität und Wahrheitstreue in bürgerlichen Institutionen?
Keine interessensneutrale Gesellschaft
Unsere heutige Gesellschaft ist so aufgebaut, dass sie die Kapitalisten, sprich die Konzern- und Bankbesitzer, zum Geld vermehren zwingt und die Arbeitenden zum arbeiten. Letztere stellen die Produkte her und wollen so viel wie möglich davon haben, erstere bekommen sie und wollen so wenig wie möglich davon abgeben. Eine konfliktreiche Konstellation, die man Klassenkampf nennt. Hätten letztere nun die Macht über den Staat, also die bewaffnete Gewalt, das öffentliche Eigentum, die Schulbildung etc. oder über Medien und Kultureinrichtungen, also die öffentliche Meinung, sähe es schlecht aus für Erstere. Denn die Klasse der Kapitalisten ist nicht nur viel kleiner, ihr Anspruch auf die Produkte ist mangels eigener Arbeit auch um einiges schwerer zu begründen. Weil das so ist, brauchen sie die Macht über den Staat, über die Medien und über den Kulturbetrieb. Anders ließe sich das eingangs etwas vereinfacht dargestellte System nicht aufrechterhalten. Nur mittels dieser Macht können sie dafür sorgen, dass hierzulande mehr als 40 Millionen Menschen täglich arbeiten, um die Yacht von jemanden zu finanzieren, der zur gleichen Zeit fernab in seiner Villa über den Charakter eines 10.000€-Rotweins sinniert. Diese 40 Millionen müssen Dinge denken und wollen, die nicht von ihrem Interesse geprägt sind, sondern von dem ihres rotweinschlürfenden Kapitalisten. Oder wie es Marx formulierte: Die in den Köpfen der Masse dominierenden, also herrschenden Gedanken müssen die Gedanken der Herrschenden sein.
Aber klingt das nicht alles doch reichlich spooky? Ideen der Herrschenden in den Köpfen der Beherrschten, Macht über den Staat, die Schule und am Ende sogar die gute alte ARD?
Die herrschenden Ideen
Die entscheidende Frage lautet: Wie lässt sich das Interesse, dass 40 Millionen+ für die Luxusinteressen von einigen Wenigen arbeiten, so glaubwürdig verpacken, dass diese das System nicht grundlegend hinterfragen?
Hier kommen verschiedenste Mechanismen zur Anwendung. Sehr wirkungsvoll ist die Verwendung von Begriffen, deren Definition einfach den herrschenden Verhältnissen angepasst wird. „Freiheit“ hat nichts mit der Freiheit von Existenzängsten, Ausbeutung oder Not zu tun, sondern heißt, tun und lassen zu können, was man will oder wirtschaftlich gedacht: die Freiheit des Marktes. „Demokratie“ hat nichts damit zu tun, tatsächlich die eigenen Lebensverhältnisse zu gestalten, denn dafür bräuchte es ja eine geplante Wirtschaft, sondern wird darauf reduziert, alle Jubeljahre wählen gehen zu dürfen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, mit schönen Worten wie „Würde“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Sicherheit“, die alle in einem Sinne verstanden werden, der die Spielregeln des Kapitalismus bereits zur Grundlage hat. In dieser Weise lässt sich dann natürlich ruhigen Gewissens berichten, dass in Hongkong, Belarus oder Venezuela die Menschen für „Freiheit“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ auf die Straße gehen. Wie eine Protestbewegung zu sozialen Rechten steht oder von wem sie finanziert wird, finden die fleißigen „Faktenfinder“ von ARD, Spiegel und Co erstaunlicherweise nicht.
Das Manipulative an der bürgerlichen Berichterstattung zeigt sich z.B. auch durch die gezielte Einengung wirtschaftlicher Zusammenhänge. Heißt es so häufig, dass ein Unternehmen aufgrund von Wettbewerbsdruck Stellen abbauen oder der Staat aufgrund leerer Kassen öffentliches Eigentum verscherbeln müsse, ist daran ja nicht falsch, dass es derzeit Wettbewerbsdruck oder leere Kassen gibt. Aber die Möglichkeit, das Unternehmen zu verstaatlichen oder die öffentlichen Kassen mit einer Reichen- oder Erbschaftssteuer zu füllen, werden schlicht weggelassen. Innerhalb des kapitalistischen Systems gedacht erscheinen die Argumente, die uns von den Medien oder in der Schule präsentiert werden, meist „logisch“, widersprüchlich wird es erst, wenn dieses nicht als vorgegeben angenommen wird. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren Klassiker bürgerlicher Propaganda: dem Ausblenden des historischen Kontextes. Egal, wo ein imperialistischer Krieg geführt wird, es geht nie darum, wie es zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Missständen kam – denn dann zeigte sich ja, dass Verursacher und „humanitärer Interventionist“ fast immer die gleichen sind.
Wie damit umgehen?
„Das ist doch Propaganda“ ist in der Regel ein Totschlagargument – Diskussion beendet. Können wir uns also zurücklehnen und all die Verzerrungen und Verdrehungen der Wahrheit in bürgerlichen Medien, der Kultur oder Schule als Propaganda abtun und uns mit wichtigeren Dingen beschäftigen? Schön wär’s! Obiger Satz von Marx würde nicht stimmen, wenn die Herrschenden nicht auch die Definitionshoheit darüber hätten, was Propaganda ist. Nicht derjenige, der die Zerschlagung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden als „friedliche Revolution“ oder „Befreiung“ von der „zweiten deutschen Diktatur“ abfeiert, wird in der öffentlichen Debatte als Propagandist gebrandmarkt, sondern jene, die darauf hinweisen, dass nicht alles schlecht gewesen sein kann an einem Staat ohne Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Ausbeutung. Keine einfache Ausgangslage. Aber am Ende kommen fortschrittliche Kräfte nicht drum herum, sich mit der Propaganda der Herrschenden auseinanderzusetzen.
Der kommunistische Schriftsteller Ronald Schernikau hat seine KollegInnen in der DDR kurz vor dem Untergang ihres Staates davor gewarnt, dass sie sich in einem kapitalistischen Deutschland wieder damit beschäftigen müssten, wie „die Scheiße in die Köpfe“ komme. Drastisch, aber wahr. Dem ließe sich mit Blick auf unsere Aufgaben heute aber noch hinzufügen, dass wir uns ebenso damit beschäftigen müssen, wie die Scheiße da wieder rauskommt.
Daniel, Trier