Zur Wahlniederlage der AKP
„Erdogans größte Niederlage – Opposition siegt bei Kommunalwahlen in der Türkei“, titelte die FAZ am 1. April. Tatsächlich: Die regierende AKP verliert in einem beträchtlichen Teil der türkischen Provinzen, allen voran in den großen Wirtschaftszentren Istanbul, Izmir und Ankara. Auch in konservativen Provinzen der Zentraltürkei und Anatoliens, klassische Hochburgen der AKP, verlor die herrschende Partei einige Provinzen, etwas, was in den letzten 20 Jahren unter Erdogan nicht einmal vorkam. Gewinner dieser Wahl war die CHP, die sozialdemokratisch-kemalistische Partei, die in den letzten Jahren zur wichtigsten Oppositionspartei avancierte. Programmatisch stellt sie sich gegen den neoliberalen Wachstumskurs der AKP-Regierung sowie gegen den hart vorangetriebenen reaktionären Staatsumbau, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder auch gegen die bürgerlichen Oppositionsparteien gewendet hatte. Auch die prokurdische Dem Parti, ein Sammelbecken linker, grüner und kurdischer PolitikerInnen, konnte einige Provinzen gewinnen, wurde aber sogleich von ebendiesem Staat mit Repressionen belegt. Den Sieg eines prokurdischen Kandidaten in der osttürkischen Stadt Van wollte das Innenministerium kurzerhand annullieren lassen, musste nach zweitägigen Massenprotesten in mehrheitlich kurdischen Städten jedoch zunächst davon absehen.
Zwischen Wahlen und Funktionen
Ob der Sieg der Opposition bei den Kommunalwahlen am Ende Konsequenzen hat oder gar für Fortschritt sorgt, bleibt fraglich. Denn, einerseits hat die herrschende AKP in den letzten Jahren erfolgreich ihre Machtbasis immer weiter gefestigt, unliebsame PolitikerInnen mit Berufsverboten belegt und Zwangsverwalter in kurdische Gebiete geschickt. Andererseits fiel auch die Opposition, allen voran die CHP, bei der Präsidentschaftswahl 2023 durch Nationalismus und stark prowestliche Positionen auf. Während die AKP in ihrem Ringen um nationale Größe immer mal wieder mit Russland paktiert, um sich ein Stück weit Handlungsspielraum jenseits der NATO zu verschaffen, warnte die CHP vor russischer Einflussnahme auf Wahlen und richtet ihre Politik insgesamt transatlantischer aus. Dabei bleibt die Türkei auch unter der AKP an der Seite der NATO, ganz gleich wie viel russisches Öl importiert wird.
Im Endeffekt zeigen die Wahlergebnisse vor allem eins: Die türkische Bevölkerung ist unzufrieden mit ihrer Regierung und einer Politik, die gnadenlos die Interessen des Kapitals vertritt und von einer tiefen Wirtschaftskrise erschüttert wird. Die Inflation liegt in den letzten zwei Jahren bei 50-70% und die monatlichen Durchschnittsrenten befinden sich inzwischen deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Die im letzten Jahrzehnt mit Krediten befeuerte Baubranche, eines der Standbeine der türkischen Ökonomie und eng mit der herrschenden Clique verbunden, befindet sich ebenfalls in einer tiefen Krise, die die AKP nicht in den Griff zu kriegen scheint. Auch die in Ankara gehegten Großmachtambitionen, die sich in immer weiterer Aufrüstung und taktischem Ausloten zwischen der NATO einerseits und Russland und China andererseits ausdrückt, wobei die Türkei strategisch treu an der Seite der NATO steht, stehen der wirtschaftlichen Realität der allermeisten TürkInnen gegenüber. Für insgesamt knapp 23 Milliarden Dollar vereinbarte die Türkei Anfang des Jahres einen Kampfjetdeal mit den USA, während die Jugendarbeitslosigkeit 2022 bei ganzen 19% lag. Im Gegenzug stimmte die Türkei dem NATO-Beitritt Schwedens zu.
In Gottes Namen herrschen?
Dieses Motiv zieht sich durch das gesamte Wahlergebnis und fast alle Provinzen, denn selbst die konservativ-islamische Opposition konnte den Unmut der Bevölkerung ausnutzen, dort vor allem durch den „beschämenden Handel mit Israel“. Denn während Erdogan sich als Anführer der muslimischen Welt inszeniert und öffentlich an propalästinensischen Demonstrationen teilnimmt, ist Israel ein wichtiger Handelspartner der Türkei. Das Geschäftsvolumen belief sich auf über 8,4 Milliarden Dollar, Israel ist der neuntgrößte Importeur türkischer Güter. Und auch strategisch arbeiten die beiden Staaten in den letzten Jahren immer enger zusammen. Die rhetorischen Angriffe gegen Israel durch die türkische Regierung verhinderten nicht die Planung der gemeinsamen Ausbeutung von Erdgasvorkommen im Mittelmeer und ebenso wenig die Planungen eines Pipelinebaus zwischen den beiden Staaten. Diese Doppelmoral nehmen viele Türken ihrer Regierung übel, wobei der Unmut über die türkisch-israelischen Beziehungen sich vornehmend religiös-nationalistisch ausdrückt.
Bei all diesen innenpolitischen Verwerfungen und Konflikten innerhalb der Türkei, darf die strategische Rolle des türkischen Staats innerhalb der NATO und für den bundesdeutschen Imperialismus nicht übersehen werden. Die Türkei fungiert dort zunächst geopolitisch als Brückenkopf zwischen Europa und dem Nahen Osten, Nordafrika und dem Schwarzmeerraum. Der Luftwaffenstützpunkt Incirlik ist von zentraler Bedeutung für die „Kriege gegen den Terror“, die die USA und die NATO in den letzten 20 Jahren führten. Aus der Südosttürkei wurden Angriffe gegen den Irak, Syrien und auch Afghanistan geflogen, außerdem dient der Flughafen als zentrales Logistikdrehkreuz zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten. Die strategische Bedeutung dieser Basis wird in der geschichtlichen Betrachtung deutlicher. Während des Kalten Krieges stationierten die USA dort Mittelstreckenraketen mit Nuklearsprengköpfen, die direkt die Sowjetunion bedrohten und starteten von dort aus auch Spionageflüge über die gesamte Sowjetunion. Auch heute noch sind in Incirlik taktische Atombomben der USA stationiert, diese haben aber mehr politische als militärische Bedeutung.
Geheuchelte Solidarität
So spielt die Türkei also in der Nahostpolitik des Westens schon seit geraumer Zeit eine tragende Rolle, doch gerade im Zuge der weiteren Eskalation zwischen der NATO und Russland wird diese noch einmal bedeutender. So ist die Türkei als Brückenkopf zwar von zentraler Bedeutung in der Zurückdrängung russischen Einflusses auf beispielsweise Syrien, gleichzeitig aber ist Russland einer der wichtigsten Handelspartner der Türkei, vor allem von Energieimporten ist die türkische Wirtschaft regelrecht abhängig. Ein weiterer Punkt, der die strategische Bedeutung der Türkei für die NATO ausmacht, ist die Kontrolle über Dardanellen, Marmarameer und den Bosporus. Der türkische Staat kontrolliert also den einzigen Zugang zum schwarzen Meer und nutzt diesen Hebel in der Konkurrenz zu anderen Staaten aus. So wird in der verfolgten strategischen Ambiguität mal britischen Kriegsschiffen verboten die Meerenge in Richtung Ukraine zu durchqueren, mal russischen U-Booten die Durchfahrt verweigert.
Die Wahlniederlage der AKP drückt also vor allem aus, dass die türkische Bevölkerung unzufrieden über die aktuelle Regierungspolitik ist, dabei aber an die Grenzen des türkischen Systems stößt, in dem die Opposition in manchen Bereichen Fortschritt verspricht, sich aber ebenso den Sachzwängen und Kapitalinteressen beugen muss. Die herausragende Bedeutung der Türkei für die NATO und auch für Deutschland (man denke zusätzlich noch an das „Flüchtlingsabkommen“) führt dazu, dass man sich in deutschen Regierungskreisen schlussendlich mit Ankara arrangieren wird, gleichgültig ob die AKP oder die CHP regiert.
Simon, Bielefeld