Inklusion im Arbeitsalltag (POSITION #02/16)

veröffentlicht am: 30 Mrz, 2016

Selbstbestimmt leben und arbeiten – ein Menschenrecht?

Die meisten haben den Wunsch nach der Schule oder spätestens nach der Berufsausbildung von zu Hause auszuziehen – endlich eine eigene Wohnung, den ersten Job, ein eigenständiges Leben führen! Doch ist es nicht immer so einfach, auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, gerade wenn man nicht so offensiv in Bewerbungsgesprächen auftritt und die Ellenbogen ausfährt. Im Bereich der Arbeit sind wir in Deutschland – im Kapitalismus – weit weg von einer inklusiven Gesellschaft, Spaltung und Selektion stehen auf dem Programm.

Das hat auch Ingo aus Kiel schon kennen gelernt. Er war 2008 nach einer längeren Erkrankung und Abbruch seines Studiums auf der Suche nach einem Job. „Ich habe mir damals nicht zugetraut mich erfolgreich irgendwo zu bewerben“, erzählt er rückblickend, „eben auch, weil ich mich selbst nicht so gut verkaufen kann.“

Starthilfe

„Deswegen habe ich mich dafür entschieden ein Angebot der Starthilfe zu nutzen, um so über eine berufliche Reha-Maßnahme in langsamen aber sicheren Schritten letztlich im normalen Arbeitsleben zu landen.“ Die Starthilfe, eine Einrichtung der Brücke SH wendet sich gezielt an Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen noch nicht oder nicht wieder den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes stellen können. Sie bietet also Hilfestellung und Unterstützung indem sie Arbeit in ihren Häusern und Werkstätten anbietet, aber auch Praktika bei Firmen vermittelt.

Zu Ingos Tätigkeiten bei der Brücke SH gehört anfangs die Herstellung von Knallbonbons für den Feuerwerkshersteller WECO. Für eine bessere Förderung mit vielfältigeren Aufgaben wechselt er nach dem 3-monatigen Eingangsverfahren in den Bereich Bürodienstleistung. Unter dem Stichwort Papierweiterverarbeitung sortiert und verschweißt Ingo hier u.a. Werbezeitschriften für verschiedene Konzerne, die dann in den Versand gegeben werden.

Finanziert wurde die Reha durch einen staatlichen Träger, der für diese Maßnahme pro Monat ca. 2000 Euro an die Starthilfe der Brücke zahlt. „Ich selbst bekam in dieser Zeit eine Grundsicherung vom Amt und für meine Arbeit bei der Starthilfe rund 200 Euro monatlich, als Werkstattlohn bzw. Taschengeld“, berichtet Ingo. „Doch mein Ziel war ja ein richtiger Arbeitsplatz!“ Mit Hilfe der Integrationsberatung der Starthilfe macht Ingo ab September 2011 erst ein Praktikum bei der Firma Neumann & Wolff und wird dann als Klient der Starthilfe an den Kalenderhersteller verliehen. Dieser zahlt dafür nun Ingos Werkstattlohn.

Hilfsarbeiten

Ursprünglich wollte das Unternehmen nur die Tätigkeit des Kommissioniers an einer speziellen Maschine für Fotokalender besetzen. „Mit Kommissionieren ist hier gemeint, die Kalenderrohlinge für die Weiterverarbeitung bereitzustellen. Das ist eine Arbeit, bei der man sich oft bücken muss, um die Rohlinge von den Paletten in die Maschine zu bringen“, beschreibt Ingo, „Das wollte wohl niemand für den Lohn, den sich der Geschäftsführer Herr Klug vorgestellt hat, machen.“ So kam der Kontakt zwischen Neumann&Wolff und der Integrationsberatung bei der Brücke zustande. „Bald hat die Produktionsleitung gemerkt, dass ich recht anständig mit anpacke, so wurde mein Tätigkeitsfeld erweitert.“ Alle Sorten von Hilfsarbeiten fallen nun in Ingos Bereich, vor allem auch die, bei denen man dreckig wird. „2012 hat die Firma gefragt, ob ich einen Staplerschein machen kann.“, so Ingo, „Den habe ich dann auch gemacht, aber bezahlt wurde auch das von der Brücke.“ Aber im Werk von Neumann&Wolff konnte er nun auch beim Be- und Entladen von LKWs helfen und im Lager.

Ein eigener Vertrag

Sein Ziel, einen eigenen, richtigen Arbeitsvertrag, erreicht Ingo erst 2014. Nach harten Verhandlungen erhält er 6,04 Euro Stundenlohn, nicht zuletzt auch weil er das Argument durchgesetzt hat, unabhängig von staatlichen Förderungen sein Leben bestreiten zu wollen. Das hat er dann auch gemacht: 11 Monate und 6 Tage lang hat er bei Neumann&Wolff gearbeitet, 42 Stunden die Woche. Aber die durch das Mindestlohngesetz seit Anfang 2015 vorgeschriebenen 8,50 Euro pro Stunde wollten sie Ingo nicht zahlen, sein befristeter Vertrag wird nicht verlängert. Damit ist Ingo ein weiteres Beispiel dafür, wie verheerend es ist, dass die aktuelle Rechtslage zum Mindestlohn voller Schlupflöcher ist, und die Unternehmer auf Kosten der Beschäftigten ohne Ende tricksen können.

Seine Erkenntnis im Rückblick lautet: „Es ist Irrsinn, dass Unternehmen über das Vergeben von Praktikumsstellen oder das dauerhaft Ausleihen von ArbeiterInnen, die über Maßnahmen finanziert werden, Arbeitsplätze abdecken. Ich habe mir bei der Brücke 2 Jahre lang quasi selbst meinen Arbeitsplatz weggenommen.“ Der Bereich der Hilfstätigkeiten wird heutzutage fast nur noch über Leih- und Zeitarbeitsfirmen besetzt oder eben über andere Lösungen, wie es bei Ingo der Fall war.

Chancen und Grenzen

Tobi aus Schwerin hat sein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Beruflichen Bildung in den Werkstätten im mecklenburgischen Dorf Rampe bei Schwerin gemacht und ist dort bis zum Beginn seines Studiums als Helfer beschäftigt. In Rampe begleitet und betreut er behinderte Menschen, die hier Qualifikationen für den Beruf erlernen wollen. Er gibt auch Musikunterricht, eine Gelegenheit zur Entspannung und zum Ausprobieren neuer Instrumente für alle.

Er beschreibt die Werkstatt als einen geschützten Raum, in dem man sich Zeit nehmen kann mit den Menschen zu arbeiten. Beispielsweise begleitet er einen Berufsschüler im Bereich Landschaftspflege und achtet dabei gezielt auf dessen Stärken und Schwächen. Durch diese individuelle Betreuung kann er ihm genau da helfen, wo es noch hapert. Doch nicht alle fühlen sich in den Werkstätten richtig aufgehoben. Tobi erzählt, dass Jugendliche mit einer Lernschwäche sich anfangs oft nicht damit identifizieren können, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, sie kommen sich fehl am Platze vor.

Inklusive Arbeitsplätze?

Doch das Problem ist grundsätzlicher: Einerseits ist es ein richtiger Schritt und ein erkämpfter Erfolg, dass es Einrichtungen wie die Werkstätten gibt, um behinderte Menschen nicht sich selbst und wegen des Ausschlusses aus der Gesellschaft der Isolation zu überlassen. Dabei ist es ein richtiger Ansatz bei der Förderung vorhandener Potenziale auch über den Weg der Arbeit zu gehen. „Ziel müsste es sein, diesen zentralen Bereich des Lebens gleichberechtigt mit anderen zu erleben.“ so Tobi, „Das Modell der Werkstätten darf dabei aber kein Mittel zur Spaltung sein.“ Dies geschieht jedoch, wenn die Menschen dort benutzt werden, um sie aufgrund ihrer Behinderung staatlich subventioniert für ein Taschengeld Tätigkeiten verrichten zu lassen, für die sich die Unternehmer anderes Personal einsparen. Die Forderung nach inklusiven Arbeitsplätzen gerät demnach immer in grundsätzlichen Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise, da die gleichberechtigte Einbindung behinderter Menschen in den Produktionsablauf auf Kosten des Profits der Unternehmer gehen würde.

Das zeigt auch das Beispiel der Ausgleichsabgabe: Gesetzlich vorgeschrieben müssen Firmen, die nicht mindestens 5% ihrer Arbeitsplätze an schwerbehinderte Menschen vergeben eine Ausgleichsabgabe zahlen. Durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten können sie diese aber verringern. So wird der Gedanke der sog. „Behindertenquote“ als Anreiz für Unternehmen inklusive Arbeitsplätze zu schaffen ins Gegenteil verkehrt, da die Teilung zwischen dem allgemeinem Arbeitsleben und Werkstättenarbeitsplätzen noch gestärkt wird. „Ein Unding!“, findet Tobi.

Dass es Orte wie Rampe, die Brücke SH oder die Lebenshilfe etc. gibt, das befürworten sowohl Tobi als auch Ingo, denn sonst wären viele ganz auf sich allein gestellt. Doch um die Teilhabe aller, also auch behinderter Menschen, am Arbeitsleben zu verbessern, muss sich noch einiges ändern. Statt über billige Zuschüsse an die Werkstätten Praktika und Außenarbeitsplätze zu vermitteln, müssten die Wirtschaftsunternehmen gezwungen werden, mehr behindertengerechte Arbeitsplätze zu schaffen. „Die Arbeitsanforderungen müssten sich allgemein mehr an die Bedürfnisse der Menschen anpassen, denn keiner will unbedingt 42 Stunden arbeiten, 35 wären auch genug! Und manches kann auch mal langsamer gehen.“, sagt Ingo und Tobi ergänzt: „Doch das steht natürlich dem Profitinteresse im Weg“.

Tine, Berlin

Dieser Artikel erschien in
POSITION #2/2016
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