„Belarus ist keine geopolitische Angelegenheit; es geht nicht darum, sich zwischen der EU und Russland auf eine Seite zu schlagen“: Das behauptete der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am 22.09., wie schon so mancher westliche Politiker zuvor. Das Problem ist nur: Die Behauptung ist falsch. Geostrategische Überlegungen stehen sogar im Zentrum der Belaruspolitik der EU.
Die EU-Osterweiterung
Die EU hat seit 1990 ihren Einfluss sukzesszive in Richtung Osten erweitert – zunächst mit ihrer Osterweiterung, dann mit dem Angebot an die drei noch zwischen ihr und Russland verbliebenen Staaten (Belarus, Ukraine, Moldawien), sich mit einem Assoziierungsabkommen fest an sie zu binden. Treibende Kraft dahinter war stets Deutschland, dessen traditionelles ökonomisches Expansionsgebiet Ost- und Südosteuropa nun einmal ist; Frankreich hätte umfangreichere EU-Aktivitäten in seinem primären Interessengebiet rings um das Mittelmeer favorisiert. Moldawien und – nach heftigen Machtkämpfen – die Ukraine haben sich letztlich der EU assoziiert, Belarus bisher nicht. Gelänge es Berlin und Brüssel, es nun auch noch fest an ihre Seite zu ziehen, dann hätte die EU Osteuropa bis zur russischen Grenze vollständig im Griff – ein willkommener Pluspunkt beim Bestreben, sich als Weltmacht zu etablieren.
Russland und Belarus-eine enge Verbindung?
Aus Sicht Russlands ist Belarus das letzte europäische Land, das noch fest in sein eigenes Bündnissystem eingebunden ist. Es gehört der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) an, einem Militärbündnis, und es ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion; darüber hinaus haben sich beide Staaten im Jahr 1999 in einer Union zusammengetan, über deren Ausbau immer wieder verhandelt wird. Moskau unterhält eine Marinekommunikationseinrichtung und eine Radarstation auf belarussischem Territorium; strategisch spielt zudem eine Rolle, dass Belarus relativ nah an die russische Exklave Kaliningrad heranreicht, die von Russlands Hauptterritorium weit entfernt ist. Würde Minsk einen Seitenwechsel vollziehen, ginge nicht nur all dies für Moskau verloren; Russland wäre dann entlang seiner gesamten europäischen Grenzen unmittelbar, ganz ohne jeden Puffer, mit einem rivalisierenden Block konfrontiert – mit der EU, womöglich sogar mit der NATO, deren Hauptmacht, die USA, eine weitere Schwächung Russlands begrüßen würde.
Belarus selbst sich hat in den 26 Jahren der Präsidentschaft von Alexander Lukaschenko stets die Situation zunutze gemacht, dass einerseits die EU es anbinden, andererseits Russland es keinesfalls verlieren will. Es hat zwar eng mit Moskau kooperiert, aber immer darauf geachtet, einen gewissen Abstand zu wahren, um nicht gänzlich vom übermächtigen östlichen Nachbarn aufgesogen zu werden. So hat es die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation nicht anerkannt und stattdessen – etwa als Gastgeber der Minsker Verhandlungen um eine Lösung im Ukrainekonflikt – versucht, sich quasi zwischen Moskau und Brüssel zu positionieren. Auch hat es – wirtschaftlich etwa – immer wieder mit der EU kooperiert. Die wiederum hat in der Hoffnung, in Minsk könnten andere, enger am Westen orientierte Spektren an die Macht kommen, regelmäßig die Opposition gegen Lukaschenko unterstützt und den Druck auf diesen zuweilen mit Sanktionen erhöht. Von der Schaukelpolitik zwischen West und Ost hat sich Lukaschenko freilich nicht abbringen lassen – bis zu den jüngsten Protesten jedenfalls. Die könnten ihn fest an Moskaus Seite getrieben haben.
Jörg Kronauer
Dieser Artikel erschien in der aktuellen Position, dem Magazin der SDAJ.