Göttingen: Die arabischen Revolutionen

veröffentlicht am: 29 Apr, 2011

Die SDAJ Göttingen schreibt auf ihrer Website über die arabischen Revolutionen:

Mindestens in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Dschibuti, Jemen, Jordanien, Syrien, Irak, Bahrain finden derzeit Aufstände statt. In Ägypten und Tunesien wurde die Hauptforderung nach Abgang der bis zu 30 Jahre herrschenden Präsidenten erfüllt, doch die Massenaktionen dauern an, denn die Vertreter der alten Regimes, die Militärs oder die Köpfe der alten Regierungen üben immer noch die Gewalt aus. Alles deutet auf eine revolutionäre Erhebung breiterer Schichten der Bevölkerung hin, denn in allen Länder tritt die Arbeiterklasse für ihre sozialen Rechte in Aktion und fordert Mindestlöhne, Sozialversicherungen, Bestrafung von Korruptionsverantwortlichen, Privatisierungsstopps und Wiederverstaatlichung privatisierter Unternehmen.

In den imperialistischen Ländern herrscht Ratlosigkeit, die sich darin ausdrückt, dass die Regierungen vom Schweigen über Komplizenschaft gegen die Massenaktionen der Unterdrückten und Ausgebeuteten bishin zu offener Begrüßung und Unterstützung von Aufständen keine einheitliche Aktion im arabischen Raum finden. Im Gegensatz zu prowestlichen „Regime Changes“ oder sog. „orangenen Revolutionen“ handelt es sich in diesem Falle in erster Linie um soziale Proteste. Trotzdem treten unsere Arbeiterklasse und die Linken kaum mit solidarischen Aktionen auf. Dies offenbart die Tiefe der Krise, in der sich die Arbeiterklasse befindet.

Die kapitalistische Krise und die arabischen Aufstände

Eine kleine Einführung: Der Imperialismus – das Finanzkapital weniger Nationen – schafft sich abhängige Staaten, welche dem Finanzkapital Extraprofite durch Kapitalexport sichern. Die Herrschaft des Imperialismus in den abhängigen Ländern stützt sich auf einzelne Kapitalfraktionen der dort herrschenden Klasse. Diese Kompradorenbouregoisie fungiert als ihr politischer Statthalter und profitiert von dem Handel mit und der Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten. Die „Mubaraks und Ben Alis der arabischen Welt“ sind ihr ausführendes Personal. Die Aufteilung der Welt unter wenigen Mächte führt zur weltweiten Teilung der Produktion: Die abhängigen Länder stellen als verlängerte Werkbank und Rohstofflieferanten mehr und mehr Teile der weltweiten Produktion. Nun befindet sich die kapitalistische Wirtschaft seit 2008 in einer seiner tiefsten Krisen, eine Krise der relativen Überproduktion. Dadurch verschärfen sich die Widersprüche zwischen imperialistischen und abhängige Ländern, zwischen den imperialistischen Staaten, innerhalb der abhängigen Länder und allen voran zwischen Kapital und Arbeit.

Wie sieht das konkret aus, am Beispiel Ägypten?
Kapitalexport ist kein Warenexport! Er schafft eine tiefgreifende Abhängigkeit des importierenden Landes vom exportierenden:
– Direkte Investitionen: So investiert das deutsche Finanzkapital (z.B. RWE, Daimler, Siemens) in Ägypten einen jährlichen Wert von etwa einer halben Milliarde Euro.
– Staatlichen Schulden: Die Ägypten staatlichen Auslandsschulden beträgt über 28 Milliarden Dollar und ist insgesamt mit über 80 % des Bruttoinlandsprodukts zu bewerten.
Die ägyptische Kompradorenbourgeoisie, die trotz Mubaraks Abgang weiterhin herrscht, ist ständig darum bemüht die Bedingungen für Kapitalimporte zu verbessern, da diese die Quelle ihres eigenen Reichtums sind.
Die Verschärfung der Widersprüche durch die kapitalistische Krise sieht in Ägypten folgender Maßen aus:
– Die milliardenschweren Konjunkturprogramme der imperialistischen Länder wie den USA und der BRD konnten schnell mobilisiert werden. Dagegen mussten abhängige Länder wie Ägypten ihre Ressourcen für steigende Preise, z.B. von Weizen (Steigerung von über 200 % zwischen 2005 und 2010) ausgeben, so dass diese Mittel an anderer Stelle fehlen. Staatliche Investitionen und konsumtionelle Nachfrage der Bevölkerung fielen daher mager aus, was ein Wachstum der heimischen Industrie unmöglich machte.
– Gleichzeitig zwingt die westliche Welt die in indirekter Abhängigkeit stehenden Staaten zum Kauf von staatlichen Konsumgütern, wie militärischen Waffen und Ausrüstung für Repressionsorgane. So verdoppelten sich die Rüstungsimporte Ägyptens aus Deutschland innerhalb eines Krisenjahres.
– Letztlich erhöht sich der Druck auf die nationale Industrie der abhängigen Länder durch die Konkurrenz mit den stark subventionierten Waren aus den imperialistischen Staaten.

Die Widersprüche zwischen der nationalen Bourgeoisie und der Kompradorenbourgeoisie sind nur eine Erscheinung der Widersprüche zwischen den imperialistischen und abhängigen Ländern auf nationaler Ebene. So hat jene nationale Bourgeoisie das Interesse auf industrieller Basis Kapitalakkumulation durchzuführen, was die imperialistische Bourgeoisie zu verhindern versucht. Dieser Widerspruch eskaliert in Form von Massenarbeitslosigkeit und Überteuerung, was die ökonomische Grundlage für die arabischen Aufstände bildet.

Revolte, Revolution oder Konterrevolution?

Das allgemein vorherrschende Verständnis von einer Revolution ist die Ersetzung einer Produktionsweise durch eine fortschrittlichere, z.B. die Zerschlagung des Feudalismus durch den Kapitalismus oder der Übergang von der Ur- zur Sklavenhaltergesellschaft. Revolutionen sind nicht in ihren Ergebnis zu beurteilen, sondern beschreiben insbesondere Prozesse. D.h. sie sind Folge qualitativer Sprünge in Bewusstsein und Aktionsform der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse, welche sich nicht mehr auf Teilforderungen beschränkt, sondern auf eine allumfassende Änderung der Gesellschaft drängt. Ihr Charakter ist die Massenaktion!

In diesem revolutionären Massenaktionsprozess treten verschiedene Klassen jeweils mit ihren politischen Vertretern auf. Die Kompradorenbourgeoisie tritt einerseits konterrevolutionär (Mubarak-Schergen) und andererseits als Teil der „revolutionären“ Kräfte (Muslimbruderschaft, Armeeführung) auf. Unter den verschiedenen sozialen Schichten findet eine widerspruchsvolle Auseinandersetzung statt, die den Ausgang der Revolution nicht klar macht. Entscheidend für einen fortschrittlichen Ausgang der Revolte sind nicht nur die Fortsetzung der Massenaktionen, sondern die Bildung einer bewaffneten Gegenmacht, die den Sturz des alten Staatsapparats und seiner Exekutivorgane möglich macht. Die nationale Bourgeoisie ist auf die Hilfe der Arbeiterklasse angewiesen, um die Revolte zur antiimperialistischen Revolution fort entwickeln zu können.

Wenn die Revolution erfolgreich sein soll, wird sie nicht in der bürgerlich geliebten friedlichen Form bleiben können. Die Armee muss entwaffnet und die Bevölkerung bewaffnet werden. Weder in Tunesien, noch in Ägypten verzichteten die abgewirtschafteten Eliten auf konterrevolutionäre Gewalt, erst gewaltsame Gegenwehr konnte sie vertreiben. So wurden in Ägypten Polizei und Geheimdienst zum Rückzug gezwungen und gezielte Angriffe auf Polizeibehörden und Parteizentralen der nationaldemokratischen Partei (NDP) durchgeführt. Andererseits blieb die Auseinandersetzung mit der Armee aus. Da der alte Staatsapparat zerschlagen werden muss, wird diese noch stattfinden müssen!

Die Revolution befindet sich noch in ihre spontaneistische Phase, da es weder ein antiimperialistisches Programm der nationalen Bourgeoisie, noch ein Konzept proletarischer Herrschaft gibt. Aber unabhängig davon lösten die arabischen Revolutionen eine neue Welle antiimperialistische Kämpfe aus und strafen TINA (There Is No Alternative), die Lieblingsthese der bürgerlichen Klasse, welche uns die Unmöglichkeit revolutionärer Umbrüche nach Niederlage der europäischen Arbeiterklasse in den Jahren 1989 – 1991 indoktrinieren soll, Lügen. Das ist die erste Lehre für die internationale Arbeiterklasse aus den aktuellen Ereignissen.

Der deutsche Imperialismus

Es ist verlogen, wenn Vertreter der Bundesregierung und der deutschen Exportwirtschaft jetzt ihre Solidarität mit den revolutionär – demokratischen Entwicklung in Ägypten zeigen. Jahrzehntelang wurden die jetzt ins Wanken geratenen autoritären Regime in Nordafrika systematisch durch den deutschen Staat unterstützt. Die deutsche Regierungspolitik sowie die deutsche Wirtschaft haben seit jeher mit dem Mubarak-Regime eng kooperiert und u.a. ägyptische Sicherheitskräfte ausgebildet und mit Aufstandsbekämpfungswaffen versorgt. Zahlreiche der Schusswaffen und sonstige Repressionsmittel, die von der ägyptischen Polizei gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurden, stammen aus deutschen Fabriken. Die deutschen Rüstungsexporte nach Ägypten etwa vervierfachten sich von gut 16 Millionen Euro im Jahr 2006 auf 77,5 Millionen Euro im Jahr 2009. Sie beinhalteten moderne Kommunikationsausrüstung sowie Ersatzteile für Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Außerdem erhielt die ägyptische Polizei Maschinenpistolen vom Typ MP5 aus der Entwicklung des deutschen Produzenten Heckler und Koch. Allein 2009 lieferte Deutschland fast 900 Maschinenpistolen und Einzelteile im Wert von mehr als 800.000 Euro nach Ägypten. Auch zum ägyptischen Geheimdienst, dessen zügellose Brutalität und Folterpraxis berüchtigt ist, hatten seine deutschen Partnerdienste keinerlei Berührungsängste. Ägypten wird zudem, wie auch Libyen und Marokko, als Vorposten der europäischen „Flüchtlingsabwehr“ im Rahmen der Grenzagentur FRONTEX von deutscher Seite weiter militarisiert und mit Nachtsichtgeräten, Schnellbooten und modernen Kommunikationsmitteln ausgerüstet. Ziel ist es, Flüchtlinge gar nicht erst auf EU-Gebiet kommen zu lassen. Was die ägyptische Grenzpolizei mit ihnen macht, war Deutschland dabei bisher herzlich egal.

Heuchelei der deutschen Außenpolitik

Die Forderung des deutschen Außenministers, auch in Ägypten müssten nunmehr Bürgerrechte und die demokratische Protestbewegung respektiert werden, steht also in direktem Gegensatz zur bisherigen Berliner Politik, die sich über den diktatorischen Charakter des Regimes stets im Klaren war und diese Verhältnisse nicht nur schulterzuckend, sondern sogar wohlwollend hinnahm. Einwände aus Berlin gegen das Vorgehen der ägyptischen Regierung gab es nie. Erst nachdem die tunesische Regierung, bedrängt durch die Demonstrationen, zu wanken begann und auch Kairo unter erheblichen Druck geriet, begann die Bundesregierung ihre öffentliche Haltung im Hinblick auf einen möglichen Machtwechsel in mehreren Staaten Nordafrikas neu zu justieren.

Alle, die mit der revolutionären Bewegung in Ägypten solidarisch sind, sollten sich daher keinerlei Illusionen über die Rolle der Bundesrepublik Deutschland machen. Der Bundesregierung ging und geht es nicht um Demokratie und Bürgerrechte in Ägypten, sondern allein um eigene wirtschaftliche und geopolitische Interessen. An einer echten Revolution, die nicht nur einen Präsidenten und eine Regierungsriege austauscht, sondern auch ökonomische und soziale Verbesserungen für die arbeitende Klasse und die Ärmsten der Armen in Ägypten einleitet, hat die deutsche Wirtschaft und hat die deutsche Außenpolitik keinerlei Interesse, da es die Profite schmälert. Das offizielle Deutschland wird in dieser Umbruchphase weiterhin auf das ägyptische Militär und Kräfte des alten Regimes sowie besonders „biegsame“ Teile der Oppositionsbewegung setzen.

Freund der Muslime

Als der tunesische Aufstand siegte, wusste man in Berlin, dass das französische Kapital dort Profite erzielt, so dass Paris gar den tunesischen Präsidenten polizeiliche Hilfe zur Bekämpfung des Aufstands anbot. Als der ägyptische Aufstand begann, wusste man in Berlin, dass Mubarak ein enger Bündnispartner der USA ist. Als der libysche Aufstand in Gang war, wusste man in Berlin wem man beschuldigen will. In den bürgerlichen Medien war keine Rede von der Rolle Deutschlands und des deutschen Kapitals in diesen Länder.

Als vor mehr als 100 Jahren der deutsche Kaiser Wilhelm der Zweite sagte, er versichere dem Sultan und den 300 Millionen Muslimen, dass der deutsche Kaiser Freund der Muslime zu allen Zeiten sei, ging es dem deutschen Kaiser um die Interessen des deutschen Finanzkapitals. So sicherte er ihm das große Projekt der Bagdadbahn und gewann gleichzeitig das Osmanische Reich als Bündnispartner im ersten Weltkrieg. Wilhelm wusste, er konnte sich im Gegensatz zu seinen damaligen imperialistischen Konkurrenten Frankreich und Großbritannien als Freund der Muslime darstellen, weil Deutschland keine muslimische Kolonie besaß. Parallel geschieht es heute, wenn die deutschen Imperialisten ihre Freundschaft gegenüber den arabischen Völkern bekunden und verbal ihre Konkurrenten angreifen. Die Diplomatie der BRD bemüht sich seit Jahre über die Parteistiftungen um Beziehungen zu verschiedenen oppositionellen Parteien in Ägypten, u.a. zur Muslimbruderschaft. Die deutschen Politiker und Medien machen sich vielmehr auf Propagandatour, um zu versichern, dass man mit „gemäßigten“ Islamisten zusammenarbeiten muss. Damals wie heute geht es nur um die Interessen des deutschen Finanzkapitals.

Anti-Islam-Bewegung

Das gleiche „islamfreundliche“ Kapital betreibt in der Heimat eine muslimenfeindliche Politik. Es ist nicht lange her, dass ein Vorstandsmitglied der Bundesbank ein Buch veröffentlichte, in dem er muslimische Migranten als „Integrationsverweigerer“ und „Produzenten von kleinen Kopftuchmädchen“ beschimpfte. Diese rassistische Kampagne wurde von sämtlichen Volksparteien und Medien getragen und straff organisiert, so dass kein Tag ohne Hetze gegen die Migranten verging. Faschistische Kräfte erhielten dadurch eine Bestätigung ihrer verbrecherischen Ideen und Taten, während Angriffe auf Moscheen und Muslime in Deutschland seither zunehmen. Es ist auch nicht zu vergessen, dass in einem deutschen Gerichtshof während eines rassistischen Messerangriffs ein muslimischer Ehemann durch deutsche Polizisten erschossen wurde, unter der Annahme, muslimische Männer seien gewalttätig zu ihren Frauen. In demselben Land, das sich als Freund der Muslime im Ausland verkauft, werden Muslime durch Inlandsgeheimdienst systematisch überwacht. Es geht ja um Interessen des deutschen Kapitals, das die Arbeiterklasse spalten will, gerade in Zeiten der Krise.

Handlungsplan der Solidarität

Welche Entwicklung die Aufstände nehmen, ist nicht entschieden und wird durch imperialistische Nationen, beieinflußt, die zu ihrem Vorteil intervenieren. Unsere Möglichkeit der praktischen Solidarität, der Hilfe für progressive Kräfte in den arabischen Ländern, liegt in der Bekämpfung der deutschen Imperialismus. Ihn daran zu hindern, Ägypten, Tunesien, Libyen und die anderen arabischen Länder weiterhin auszuplündern und durch ergebene Marionetten regieren zu lassen, ist unsere internationalistische Pflicht. Der deutschen Bourgeoisie Feuer zu machen, sei im Arbeitskampf hierzulande, sei es bei der Verhinderung von militärischen Interventionen, ist die Aufgabe der Gewerkschaften und der revolutionären Linken. Denn dasselbe Kapital, das gegen die Menschen in den arabischen Nationen vorgeht, macht uns hier das Leben schwer und geht gegen uns vor.

Hoch die Internationale Solidarität!

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