Niemand wundert sich mehr, wenn wieder eine rechte Chatgruppe bei der Polizei auffliegt, oder ein Waffenlager bei einem Bundeswehrsoldaten. Ein bisschen haben sich die Leute vielleicht noch gewundert, als im Dezember 2022 bekannt wurde, dass eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete, welche zum damaligen Zeitpunkt noch Richterin war, zusammen mit einem Prinzen und weiteren Mitgliedern der Reichsbürgerszene einen Regierungsumsturz plante. Aber das lag vielleicht auch eher an der Absurdität der Zusammensetzung dieser Gruppe als an der Tatsache, dass solche Fälle überhaupt existieren. Medial wird hier oft von Einzelfällen gesprochen. Ein paar rassistische Nachrichten hier, ein bisschen Holocaust leugnen da, ein ganzes Sonderkommando der Bundeswehr durchzogen von Faschisten und 60.000 Schussmunitionen sind unauffindbar – das kommt halt ab und zu mal vor.
Das zumindest ist das Narrativ, wenn es in bürgerlichen Kreisen um „Extremismus“ und „Demokratiegefahr“ geht. Ja, es gibt ein paar Böse, aber ein strukturelles Problem gibt’s hier nicht – und außerdem gibt es ja auch noch die schlimmen Linksextremisten, auf die man auch aufpassen muss.
Und weil das an gleich mehreren Stellen nicht nur falsch, sondern auch real gefährlich ist, wollen wir uns hier einmal den Raum nehmen, das Ganze näher zu betrachten.
Die „Einzelfälle“ haben System
Dass das Narrativ der Einzelfälle offensichtlich falsch ist, ist schnell aufgezeigt. 2020 bringt der Verfassungsschutz selbst einen ersten Lagebericht zu „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ heraus und kommt dabei zu folgender Erhebung: „Die Sicherheitsbehörden der Länder leiteten im Erhebungszeitraum (1. Januar 2017 bis 31. März 2020) Ermittlungen in insgesamt 319 Verdachtsfällen ein. Die Bundessicherheitsbehörden meldeten für den gleichen Zeitraum 58 Verdachtsfälle, der Militärische Abschirmdienst für den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung 1064 Verdachtsfälle“.
Ganz abgesehen davon, dass diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind und es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine sehr viel höhere Dunkelziffer gibt, sollte einem hier schon auffallen, dass es sich um relativ viele Einzelfälle handelt. Und die Tendenz steigt: Der neue Lagebericht von Mai 2022 verzeichnet etwa zehnmal so viele Fälle wie der erste. Zu beachten ist, dass diese Verdachtsfälle oft ganze Chatgruppen mit hunderten von Polizisten betreffen und damit hier häufig nicht über Einzelpersonen, sondern über eingeleitete Verfahren gesprochen wird. Im Fazit des Berichts wird von 152 rechtsextremen Chatgruppen gesprochen, sowie 143 „Mitgliedschaften in, Unterstützung von oder Kontakte zu verfassungsschutzrelevanten Organisationen festgestellt“ gesprochen. Und dabei handelt es sich um die Fälle, die überhaupt aufgeflogen und offiziell registriert wurden.
Rechtsentwicklung in Deutschland
Wie wir sehen, kann hier also bei weitem nicht mehr nur von Einzelfällen die Rede sein – soviel ist sogar schon in den linksliberalen Medien angekommen. Man fragt sich an dieser Stelle zu Recht, wie es sein kann, dass sich solche tiefsitzenden Strukturen scheinbar ungestört entwickeln und aufbauen können und konnten, während linke Strukturen erfahrungsgemäß und faktisch immer wieder von Repression betroffen sind.
„Es ist unsere Aufgabe, diese Entwicklungen zu erkennen und uns nicht von linksliberalen Erklärungsmustern in die Irre führen zu lassen.“
Um das zu beantworten, ist es zuträglich, diese Erscheinung auf einer gesellschaftlich breiteren Ebene zu betrachten. Tut man das, merkt man schnell, dass diese Skandale nur die Spitze des Eisberges sind – in dem gesamten Staat können wir in den letzten Jahren einen Rechtsruck beobachten und es wurden dabei immer wieder Gesetze durchgedrückt, welche diese Tendenzen begünstigen und verstärken. Dabei wurde oft der „Kampf gegen den Extremismus“ vorgeschoben, wobei vieles in der Realität meistens nur die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft trifft, oder nur hier angewandt wird. Ein Beispiel dafür ist das Versammlungsgesetz in NRW, ein weiteres das Polizeiaufgabengesetz in Bayern, das neue Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung, oder das neue Gesetz zum Sicherungsgewahrsam. Bei Letzterem darf die Polizei Personen in Gewahrsam nehmen, wenn sie diese Verdächtigen eine Straftat zu begehen. Gleichzeitig gibt es eine verstärkte Präsenz der Bundeswehr an Schulen und der Uni und es wird immer öfter die Bundeswehr im Innern eingesetzt.
Die Ausweitung und Stärkung von Polizei und Bundeswehr ist auf ein neues Niveau gehoben worden, spätestens als zu Beginn des Kriegs in der Ukraine die Pläne zur Aufrüstung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aus der Schublade geholt wurden, und quasi über Nacht durchgewunken. Leider ändert das liberale Framing unserer Fortschrittsregierung (a la „feministische Außenpolitik“) nichts an der beunruhigenden Tatsache: Deutschland rüstet auf, nach innen wie nach außen, und verschärft Gesetze, Überwachungs- und Repressionsmöglichkeiten.
Der NSU war nicht zu dritt
Mit dem Auffliegen des NSU 2011 gerieten rechte Terrororganisationen erstmals seit langem so richtig in den Fokus der Öffentlichkeit. Doch auch nach mehr als einem Jahrzehnt sind kaum Konsequenzen daraus gezogen worden – die Aufklärung der Verstrickung des Verfassungsschutzes, Staat und Behörden sowie das Aufdecken von Mittätern sind, wie wir spätestens seit den geleakten Akten 2022 gesehen haben, bewusst unter den Tisch fallen gelassen worden. Dabei wurden Beweise vernichtet und Ermittlungen schlampig oder gar nicht erst durchgeführt.
Es gab nicht einmal eine minimale Reaktion, wie einen Rücktritt des Innenministers. Im Gegenteil: Anstatt dass sich beispielsweise das V-Männer-Konzept in der rechten Szene änderte, verschärfte sich die Angst und Hetze rund um migrantische Personen. Gleichzeitig wurden die oben genannten Gesetze zur Repression und Überwachung beschlossen, welche vor allem die linke Szene treffen, während die enge Verstrickung der faschistischen Szene mit Staat, Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz offensichtlich unverändert bleibt.
Die Hufeisentheorie
Genutzt wird dabei gerne die Rechtfertigung, man müsse ja gegen alle Formen des Extremismus vorgehen. Dabei wird so getan, als seien „Linksextremismus“ und Rechtsextremismus zwei Seiten der gleichen Medaille und gleich gefährlich für unsere lupenreine parlamentarische Demokratie. Dem zugrunde liegt eine Hufeisentheorie, die tatsächlich immer noch in der Schule gelehrt wird, obwohl sie von einem Großteil der ForscherInnen und WissenschaftlerInnen in harter Kritik steht – und das zu Recht. Die Idee ist, dass es in einer Gesellschaft zwei extreme Pole gibt, links und rechts, entfernt von der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft, welche sich hufeisenartig an ihren jeweiligen Rändern nahestehen. Nicht nur, dass das Gleichsetzen von Links und Rechts inhaltlich komplett haltlos ist: Auch die sogenannte Mitte der Gesellschaft ist ein Begriff, bei dem man sich eigentlich mittlerweile ist, dass diese so zumindest nicht existiert.
Trotzdem ist es ein nettes Modell, wenn man aus der Perspektive eines monopolkapitalistischen Staates heraus agiert. Denn im Gegensatz zu linken und kommunistischen Bewegungen, welche ein reales Interesse daran haben, die Herrschaft des Monopolkapitals zu stürzen und mit ihr eben auch diesen Staat, richtet sich rechte Demagogie nicht im Geringsten gegen die bestehenden Eigentumsverhältnisse. Sie fungiert vielmehr als Blitzableiter, nimmt oft berechtigtes Protestpotential auf und richtet es gegen den falschen Feind – also z.B. ausländische und migrantische Personen. Ein solches Feindbild ist kein Angriff auf das Monopolkapital, vielmehr kann es sogar dazu genutzt werden, die eigenen Reihen zu schließen und die Bevölkerung zu formieren, für beispielsweise einen Krieg im Profitinteresse des Kapitals.
Eine Gleichsetzung beider kann allerdings, wie wir gesehen haben, leicht genutzt werden, um fortschrittliche Kräfte, und damit die für das Kapital gefährlichen Kräfte, mit Repressionen zu überschütten, während rechte Strukturen weitgehend ungestört weiter ihre Funktionen im Kapitalismus erfüllen. Daher braucht es uns nicht zu wundern, wenn wieder ein neues Gesetz vermeintlich zum Schutz der Gesellschaft vor „extremistischen Bewegungen“ durchgesetzt wird, welches am Ende wieder nur uns trifft. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, diese Entwicklungen zu erkennen und uns nicht von linksliberalen Erklärungsmustern in die Irre führen zu lassen. Für uns muss klar bleiben, gegen wen sich unser Kampf richtet – nämlich das Monopolkapital. Nur dann können wir gemeinsam Kampfkraft aufbauen und nur so haben wir eine Chance, dem realen Faschismus etwas entgegenzusetzen.
Anna, Berlin