Die SDAJ hält in ihrem Zukunftspapier fest: „Mit der Oktoberrevolution 1917 gelang es, in Russland unter schwierigen Bedingungen aus dem Kapitalismus auszubrechen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Jahrzehntelang konnte ein Sechstel der Erde dem Imperialismus entzogen werden. In dieser Zeit gelang es trotz permanenter Aggression der imperialistischen Staaten, ein System jenseits von Ausbeutung und Profitlogik zu entwickeln.“ Damit bewies die Sowjetunion, dass der Sozialismus selbst unter schwersten Bedingungen möglich ist. Und doch kam es 1989-1991 zur Niederlage. Wie es dazu kommen konnte, dazu haben Roger Keeran und Thomas Kenny mit „Socialism betrayed. Behind the Collapse of the Soviet Union“ einen umfangreich recherchierten und unbedingt lesenswerten Beitrag vorgelegt, der in Deutschland bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Nach der Oktoberrevolution
Aufgrund der Rückständigkeit Russlands 1917 und der Verheerungen der imperialistischen Intervention war es notwendig, zeitweilig Kompromisse mit der bäuerlichen Kleinbourgeoisie einzugehen. Aus diesem Grund beschloss die kommunistische Partei der Sowjetunion, die KPdSU, die Neue Ökonomische Politik (NÖP). Die NÖP verfolgte das Ziel, die Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg wiederherzustellen und die überlebenswichtige Produktion von Lebensmitteln anzukurbeln. In diesem Rahmen wurde in begrenztem Umfang die private Wirtschaftstätigkeit erlaubt. Das Ziel der NÖP wurde erreicht – doch damit geriet die NÖP auch an ihre Grenzen: So kam die Entwicklung der Produktivkräfte, insbesondere die Entwicklung der Schwerindustrie, nur langsam in Gang. Zudem gab es wirtschaftliche Krisentendenzen. Das war der Hintergrund für die Beendigung der NÖP, die vom ersten Fünfjahresplan abgelöst wurde. Mit diesem begann der rasante industrielle Aufstieg der jungen Sowjetunion, die wenig später einsetzende Kollektivierung der Landwirtschaft veränderte die Klassenstruktur auf dem Land: Die ländliche Bourgeoisie als Klasse verschwand. Diese Entwicklung war mit unvorstellbaren Opfern und auch Verbrechen verbunden. Im Ergebnis war sie aber Voraussetzung für den weiteren sozialistischen Aufbau und den Sieg der Sowjetunion über den deutschen und japanischen Faschismus.
Kampf zweier Linien
Keeran und Kenny zeichnen nach, dass die Richtungsentscheidungen dieser Zeit innerhalb der KPdSU höchst umstritten waren. In der Debatte reflektierten die verschiedenen Positionen die unterschiedlichen Klasseninteressen. Auf der einen Seite standen die Interessen der Groß- und Mittelbauern sowie der NÖP-Kapitalisten, die sich im Programm Bucharins, Ausweitung der NÖP, Orientierung auf Leichtindustrie und Kompromiss mit der Bourgeoisie, widerspiegelten. Auf der anderen standen Lenin und Stalin, die die NÖP als einen zeitweiligen Rückzug ansahen, der, sobald die Voraussetzungen für den Aufbau einer Schwerindustrie gegeben waren, wieder beendet werden sollte. Damit repräsentierten sie die Interessen der Arbeiterklasse und der landlosen und kleinen Bauern. Die zweite Linie setzte sich durch, Groß- und Mittelbauern und NÖP-Kapitalisten wurden bekämpft und verschwanden – mit ihnen auch tendenziell auch die soziale Basis für kapitalistische, konterrevolutionäre Positionen.
„Zweite Ökonomie“
Wenn die soziale Basis für konterrevolutionäre Positionen verschwunden war, wie ist dann aber der Durchmarsch der Konterrevolution innerhalb der KPdSU in den 1980ern materialistisch zu erklären? Unter Chruschtschow wurden marktwirtschaftliche Ideen Bucharins wieder aufgegriffen und während Breschnews immer stärker eingesetzt. Dazu gehörten beispielsweise die Zulassung kleinerer privater Gewerbe, aber u.a. auch die Zurückdrängung der Rolle der zentralen Planung gegenüber regionalen Entwicklungsplänen und mehr „Eigenständigkeit“ auch der staatlichen Betriebe, die sich zunehmend in einem Marktumfeld wiederfanden. Keeran und Kenny konnten nachweisen, dass sich auf diese Weise in der SU ab den 1950ern eine teils legale, teils illegale privatwirtschaftliche „Zweite Ökonomie“ entwickelte, die neben der offiziellen planwirtschaftlich-sozialistischen Wirtschaft bestand.
Keeran und Kenny zählen sowohl legale als auch illegale private Wirtschaftsaktivitäten zur Zweiten Ökonomie, weil beide Varianten der sozialistischen Ökonomie schaden können. Wer einen kleinen Handel mit bestimmten Konsumgütern betreibt, hat beispielsweise etwas davon, volkseigene Produkte zu stehlen, um sie dann mit Gewinn zu verkaufen. Das war keine Seltenheit. Ende der 1970er Jahre wurde in urbanen Gebieten der Sowjetunion mehr Treibstoff illegal vertrieben als legal. Je größer der Anteil des Handels in der Zweiten Ökonomie, desto größer waren die Lücken in der Versorgung mit staatlichen Gütern und desto schwerer wurde auch die zentrale Planung der Ökonomie, weil wesentliche Faktoren, zum Beispiel wie viel und was in der Zweiten Ökonomie produziert wird, aber auch an wen verkauft wird, prinzipiell unbekannt sind.
Wer in der Zweiten Ökonomie wirtschaftet, braucht gute Kontakte zu Staat und Partei, um das eigene, meist halblegale Geschäft vor polizeilicher Verfolgung zu sichern, aber auch, um an bestimmte Produkte überhaupt heranzukommen. Das ist idealer Nährboden für Korruption, die dann wiederum dem Ansehen und der Führungsrolle der KPdSU massiv schadete. Besonders bekannt geworden wurden Skandale wie der „Baumwolle-Betrug“, bei dem sich Partei- und Regierungsvertreter Milliarden Rubel in die eigene Tasche wirtschafteten. Ein anderes Beispiel ist Koslow, die „rechte Hand“ von Chruschtschow, der für Millionen Rubel Schmiergelder seinen Einfluss nutzte und die juristische Verfolgung von illegalen Kapitalisten stoppte.
Das Ausmaß der zweiten Ökonomie ist schwer zu messen. In der Forschung besteht aber Einigkeit, dass sie in den letzten 30 Jahren der Sowjetunion stark gewachsen ist. Schätzungen gehen davon aus, dass das offizielle BIP zwischen 1960 und 1990 etwa um das 4,5-Fache gewachsen ist, die Zweite Ökonomie, und da vor allem der illegale Anteil, aber fast um das 20-fache. 1989 soll er bei ca. 20 % des BIP gelegen haben. Mit der Zweiten Ökonomie wächst auch eine Klasse von neuen Kapitalisten, die potentiell eine soziale Basis für sozialdemokratische oder liberale Vorstellungen sind.
Konterrevolution
Die zweite Ökonomie bot, so Kenny und Keeran, die ökonomische Basis, auf der Opportunismus und Verrat wachsen konnten. Sie hatte aber auch einen erheblichen Anteil an der Wirtschaftskrise Ende der 80er, die eine Situation erzeugte, in der sich die Konterrevolution, getragen von einer großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung, durchsetzen konnte.
Noch Mitte der 80er war die ökonomische Lage der Sowjetunion problematisch, so Keeran und Kenny, aber nicht aussichtslos. 1985 und 1986 stiegen Produktion und Konsumtion an, die Wirtschaft wuchs je 1–2 %. Die katastrophalen Entwicklungen der späten 80er Jahre waren jedoch die Marktreformen, die im Rahmen der Perestroika-Reformen Gorbatschows hervorgerufen wurden. Durch die „Regionalisierung“ der Wirtschaftsplanung und immer stärkere Zulassung von Privateigentum entstand Chaos in Produktion und Verteilung, durch die Aufgabe des Außenhandelsmonopols flossen Mittel ins Ausland ab. Die dadurch entstehende Wirtschaftskrise war noch keine Krise des Sozialismus selbst. Es waren die Perestroika-Reformen, die zu massiver Unzufriedenheit führten, nicht andersherum, auch wenn es natürlich Unzufriedenheit gab. Dennoch: Selbst 1990 wollten nur 4 % eine Aufhebung der Preiskontrollen und nur 18 % favorisierten Privateigentum gegenüber sozialistischen Eigentumsformen. Die Unzufriedenheit war jedoch so groß, dass es möglich wurde, den Menschen den Kapitalismus als „Erneuerung“ des Sozialismus zu verkaufen.
Jan (Frankfurt)