DDR-Broschüre
VERGANGEN UND VERGESSEN?
Die DDR ist Vergangenheit. Soviel steht fest. Der 9. November, der Fall der Berliner Mauer, jährt sich 2014 zum 25. Mal. 2015 ist der 03. Oktober, der „Tag der deutschen Einheit,“ an der Reihe. Eine ganze Generation ist herangewachsen, für die die DDR bloß noch Geschichte ist. Vergangen und vergessen? Auch 25 Jahre später gibt es noch Unterschiede zwischen Ost und West, vom niedrigeren Lohn, bis zum (noch) besseren Angebot an Krippenplätzen. Und auch Politik, Medien und Schule sorgen dafür, dass die DDR nicht vergessen wird. Ein „Unrechtsstaat“ soll die DDR gewesen sein und freuen sollen wir uns, in der so freiheitlichen Bundesrepublik aufgewachsen zu sein.
Da wollen wir mit dieser Broschüre nochmal genauer hinschauen. Dabei interessieren uns nicht nur die großen Daten, an die immer wieder erinnert wird. Uns interessiert auch, was eigentlich zwischen diesen Daten passiert ist, wie die Menschen in der DDR gelebt und gearbeitet haben und wir wollen auch die großen Ereignisse aus diesen gesellschaftlichen Verhältnissen heraus verstehen lernen.
Aber sollte ein sozialistischer Jugendverband sich nicht lieber um das kümmern, was für Jugendliche heute wichtig ist? Keine Ausbildungsplätze, keine Übernahme, Leiharbeit und Befristung, miese Vergütungen, Lernstress und zu große Klassen. Von Kriegen, Nazis und Rassismus ganz zu schweigen.
Aber genau deswegen beschäftigen wir uns mit der DDR. All diese Kämpfe, die wir heute führen müssen, bleiben Flickwerk, wenn sie keine gemeinsame Perspektive haben. Diese Perspektive ist für uns der Sozialismus. Damit wir diese Alternative zum Kapitalismus vergessen, wird auf die DDR eingeschlagen. Gerade darum haben wir allen Grund, uns der DDR mal aus unserer Sichtweise anzunehmen.
Die Broschüre kannst du bei isuu als PDF lesen, im UZ-Shop für 1€ als gedrucktes Heft kaufen oder hier im Volltext lesen.
Der Lügenberg
Unrechtsstaat, Totalüberwachung und Stasiknast für jeden falschen Gedanken: Das soll sie gewesen sein, die DDR. So wird es in Schulen und Medien gepredigt. Sieht man genauer nach, wird klar: Wenn es um die DDR geht, ist den Herrschenden keine Unterstellung zu platt, keine Lüge zu durchschaubar. Aber warum machen die sich die Mühe eigentlich und wie war es wirklich? Antworten gibt’s auf den Seiten 4 bis 13.
Einleitung: Wirklich? SchülerInnen in Bayern wissen mehr über die DDR als in Brandenburg.
In einer Studie der Freien Universität (FU) Berlin von 2008 wurden Jugendliche aus verschiedenen Bundesländern nach ihrem Wissen über die DDR befragt. Die Studie ergab, dass gerade SchülerInnen aus Bayern ein „gutes“, d.h. erwünschtes Wissen über die DDR haben. Dabei wussten 40% (Bayern 21 %, Brandenburg 7%) der Befragten nicht, in welchem Jahr der Mauerfall war… Die Studie besagt auch, dass sich die SchülerInnen die DDR als Diktatur ansehen aber dennoch mit ihrem Sozialsystem sympathisieren.
Informationen über die DDR hatten die SchülerInnen von Verwanden, Bekannten und aus den Medien. Aber wenn man sich auf die Mainstream-Medien verlässt, kommt man schnell zu der Überzeugung, dass fast jeder bei der Stasi war, jeder zweite im Stasi-Knast saß und alle BürgerInnen sich gegenseitig misstraut haben. Es ist nur merkwürdig, dass viele DDR-BürgerInnen sich viel mehr an die Solidarität, das Miteinander, den Zusammenhalt der Bevölkerung erinnern. Aber diese Erinnerungen, diese Wahrnehmungen der Menschen, die in der DDR gelebt haben, sind für die Macher der Studie anscheinend „falsch“. Wie sonst ist es zu erklären, dass junge Menschen in Bayern angeblich mehr wissen als in Brandenburg, wo sie von ihren Eltern und Großeltern erzählt bekommen, wie das Leben in der DDR war?
Wenn ich meinen Verwandten darüber spreche, höre ich Verschiedenes. Von schönen gemeinsamen Urlauben für wenig Geld ist da die Rede. Große, geräumige Wohnungen für große Familien. Bildung je nach eigenem Bedarf. Ausbildung für alle. Keine Angst vor Arbeitslosigkeit. Und ich höre von Müttern, die ohne Stress und Angst um ihr Kind Vollzeit arbeiten gegangen sind. Das alles gab es nicht nur für Parteimitglieder, das war Standard. Natürlich höre ich dann auch von den Bananen, die es nur einmal in der Woche gab. Von den Autoteilen, auf die man lange warten musste. Aber: Kein Kind lebte in Armut oder musste hungern, Nachbarschaftshilfe und Transport zur Arbeit konnten immer organisiert werden. Wo tauchen diese Erfahrungen auf?
Diana, Essen
Diana (28) kommt aus dem Erzgebirge. Nach der „Wende“ erlebte sie, wie die Textilfabrik in ihrem Ort verkam. Von ihren fünf Tanten wurden 1990 vier arbeitslos und schleppen sich seitdem von einem miesen Job zum nächsten.
Zu Besuch im Stasi-Knast: Die Gedenkstätte Hohenschönhausen gehört zum Pflichtprogramm auf Klassenfahrten – nur ein Mittel, um die verordnete Sicht auf die DDR durchzusetzen.
Mauer, Stasi, alles grau – so sollen wir die DDR sehen. Was ist dran am verordneten Geschichtsbild?
„Und an der Stelle kann man Schülern dann immer gut sagen: Die Schokolade in der DDR hat furchtbar geschmeckt, die hatten ja keinen echten Kakao. Da kann man dann auch gut dran zeigen, was Mangelwirtschaft bedeutet.“ Auf der Suche nach Applaus blickt die Dame mit den Locken in die Runde der angehenden Lehrer, die sie hier gerade durch das Bonner „Haus der Geschichte“ führt. Und sie wartet nicht vergeblich, es wird gelacht. Immerhin sollen diese jungen Leute hier später selbst SchülerInnen unterrichten, gut also, wenn sie bereits verstanden haben, wie über die DDR zu denken ist. Immer wieder wird öffentlich darüber geklagt,dass Jugendliche zu wenig über die DDR wissen, oder – was für die, die sich darüber beschweren wohl noch schlimmer ist – ein „zu positives“ Bild von der DDR haben. Dagegen wird einiges aufgeboten. Zum Beispiel ein Comic über die DDR, gestaltet ganz in Grau: „Grau ist ’ne inhaltliche Aussage und das spiegelt ja eigentlich auch die Lebenswelt der Bürger“, so die Autoren. Ein graues Land mit mieser Schokolade also. Und was noch?
Unsere Meinungsfreiheit
„Über die DDR haben wir in der Schule eigentlich nur gehört: Mangelwirtschaft, Mauer, Stasi. Mehr kam da nicht“, erinnert sich Andrea an ihren Geschichtsunterricht. Ihr war das zu einseitig, also hat sie nachgefragt und darüber Ärger mit der Lehrerin bekommen. „Sie hat gesagt: ‚In der DDR durfte niemand seine Meinung sagen oder er wurde weggesperrt oder erschossen‘, alles ohne Beweise, alles nur Behauptungen, und wir sollten das eben einfach so hinnehmen. Das wollte ich nicht, da hab ich dagegen gehalten und wurde aus dem Klassenraum geworfen.“ Im Sozialkundeunterricht wurde es nicht anders: „Da haben wir mal Marktwirtschaft und Planwirtschaft behandelt. Der Arbeitsauftrag war: ‚Diskutiert, warum die Planwirtschaft der Marktwirtschaft unterlegen ist.‘“ Im Schulunterricht scheint die Sache also denkbar einfach: BRD – Wirtschaftswunder und gelungene Demokratie, DDR – Mangel und Stasi. Dass die DDR und das Leben in ihr vor allem negativ dargestellt werden, erleben viele SchülerInnen so. Und auch wenn sich LehrerInnen um Objektivität bemühen, die Unterrichtsmaterialien tun es nicht: „Tatsächlich aber führt die Zentralverwaltungswirtschaft dazu, dass es allen gleich schlecht geht – denn sie ist vor allem durch eines geprägt: den Mangel“, heißt es beispielsweise in einem Arbeitsblatt zu Wirtschaftsordnungen, das die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zur Verfügung stellt.
Pflichtprogramm
Katha, die jetzt in Leipzig lebt, erzählt von ihren Schulerfahrungen im Westen: „In der Oberstufe haben sie uns auf der Klassenfahrt gesagt: Das DDR-Museum in Berlin besuchen wir nicht, weil es zu unwissenschaftlich ist. Allerdings waren wir in der Unterstufe schon da. Also für Kinder ist es ok, in ein völlig einseitiges und plattes Museum zu gehen? “ Der Erfolg des Besuchs: „Ich weiß noch, das Gefühl, das ich da bekommen habe, war ganz klar: die DDR, das war der zweite Faschismus.“ Zweiter Faschismus wird die DDR bislang zwar noch nicht genannt, wohl aber „zweite deutsche Diktatur“. Zum Beispiel in der Selbstbeschreibung der Gedenkstätte Hohenschönhausen, einer ehemaligen Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit, also der Stasi: „In dem ehemaligen Gefängnis können sich junge Leute auf anschauliche Weise mit der SED-Diktatur auseinandersetzen.“ Hohenschönhausen ist für die Geschichtsschreibung und –vermittlung in der Bundesrepublik das Symbol für die DDR: ein großes Gefängnis. Die Gedenkstätte wird von etwa 150.000 SchülerInnen im Jahr besucht.
Ziemlich sicher so ähnlich
Auch Katha hat erfahren, wie die anschauliche Auseinandersetzung mit der DDR dort aussieht, denn ein Besuch in Hohenschönhausen war der Ersatz für das DDR-Museum auf ihrer Oberstufenfahrt: „Alles war total emotional aufbereitet. Normalerweise soll man auch von ehemaligen Häftlingen durch die Gedenkstätte geführt werden, bei uns war es aber eine ganz junge Frau, die selbst gar nicht in der DDR gelebt hat. In einer Zelle sollten wir uns dann mal für eine Zeit lang ganz aufrecht hinstellen, um nachzufühlen, wie das für die Häftlinge gewesen ist, die das dort stundenlang machen mussten.“ Den Stasi-Knast mit allen Sinnen erleben. Dass Hohenschönhausen die wissenschaftlichere Alternative zum DDR-Museum sein soll, haben auch viele andere in Kathas Klasse nicht so empfunden. „Es gibt da im Keller solche Zellen, die angeblich mal für Wasserfolter benutzt wurden, dazu hat die Führerin gesagt: ‚Eigentlich haben wir das hier nur nachgestellt, aber wir sind ziemlich sicher, dass es so gewesen ist‘, das ist schon vielen in der Klasse komisch vorgekommen.“ Forscht man weiter, stößt man darauf, dass die Zellen erst in den Neunzigerjahren beim Aufbau der Gedenkstätte in den Keller eingebaut wurden. Als Grundlage für die Rekonstruktion werden dabei die Aussage, bzw. die Skizzen eines einzigen Zeitzeugen angegeben, der 1947 als Häftling am Bau solcher Zellen beteiligt gewesen sein will, manchmal aber auch das nicht. Dann wird behauptet, die nachgebauten Zellen seien nach Erinnerungen verschiedener Häftlinge entstanden, die dort eingesessen hätten, wobei Führer durch die Gedenkstätte ebenfalls behaupten, die dort praktizierte Folter hätte niemand überlebt und darum seien keine Zeitzeugen dazu aufzutreiben. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Zellen für die Stehfolter, die Katha, genau wie viele andere BesucherInnen, nachstellen sollte. Jahrelang wurde als eine solche Zelle ein enger Durchgang präsentiert, der zu einem Lagerraum führte. Eine wirklich nachweisbare Stehfolterzelle gibt es allerdings nicht. Wissenschaftlichkeit steht aber in Hohenschönhausen nicht im Vordergrund. Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte, erklärte bei seinem Amtsantritt, er wolle, was seine Bedeutung für die „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ angeht, aus Hohenschönhausen das „Dachau des Kommunismus“ machen. Die Wortwahl ist kein Zufall. Vor der Gedenkstätte ist ein Eisenbahnwaggon zu besichtigen, der zum Antransport von Häftlingen genutzt worden sein soll. Den Waggon hat Knabe hierherbringen lassen, er steht auf einem kurzen Stück Schiene, das keine Verbindung zum Eisenbahnnetz hat und auch nie hatte. Aber egal, ob historisch korrekt oder nicht, viele BesucherInnen werden die so geschaffene Szene mit einer anderen assoziieren: der Rampe vor dem faschistischen Vernichtungslager Auschwitz. Ein drastisches Mittel, das aber das grundlegende Ziel der Gedenkstätte zum Ausdruck bringt: die Verteufelung der DDR mit allen Mitteln, auch durch die Gleichsetzung mit dem Faschismus.
Akten und Leichen
Wenn die DDR mit dem Dritten Reich gleichgesetzt wird, nennt das der Freiburger Historiker Ulrich Herbert eine „Gleichsetzung von Aktenbergen mit Leichenbergen“. Die Aktenberge der Stasi und die Leichenberge von Auschwitz auf eine Stufe zu stellen, das ist auch eine furchtbare Relativierung des faschistischen Massenmordes. Aber diese Gleichsetzung setzt sich fest, und damit wird in der Öffentlichkeit etwas erreicht, was juristisch nicht erreicht werden konnte. Denn auch wenn der damalige Justizminister Kinkel bereits 1991 auf dem „Deutschen Richtertag“ davon sprach, dass es gelingen müsse, „das SED-Regime zu delegitimieren“, kam es seit dem Ende der DDR bis heute trotz tausender Ermittlungsverfahren gegen Stasi-Mitarbeiter nur zu 20 Verurteilungen, zwölf davon Geldstrafen. Was allerdings erreicht werden konnte, war die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu diesem Thema, über die der Jurist und ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Herbert Kierstein sagt: „Es liegt in der Absicht der Meinungsmacher, die Mitarbeiter und inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS in ihrer Gesamtheit zu diffamieren und zu kriminalisieren: Ob Reinigungsfrau, Küchenhilfe, ob Mitarbeiter im medizinischen oder technischen Bereich, ob Sekretärin, operativer Mitarbeiter oder Leiter – alles Verbrecher, also Täter.“
Keine Gründe?
Es stimmt, dass eine ausufernde nachrichtendienstliche Überwachung vieler BürgerInnen der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit stattgefunden hat. Die Aktenberge waren real. Denn auch wenn die für Schulunterricht, Medien und Gedenkstätten typische Darstellung der DDR als Staat von Spitzeln und Denunzianten, in dem jeder jeden ausspionierte, die Realität bewusst verzerrt, das MfS versuchte durchaus, möglichst umfassend über im weitesten Sinne politische Tätigkeiten der DDR-BürgerInnen informiert zu sein und setzte sich dabei über deren Rechte im großen Stil hinweg. Der Hinweis darauf, dass so ein Vorgehen nun einmal in der Natur von Geheimdiensten liege, darf hier keine Entschuldigung sein. Dass die Überwachung durch westliche Geheimdienste von CIA über NSA bis zum Verfassungsschutz noch viel umfassender ist, kann zwar für einen Vergleichsmaßstab sorgen, aber begangenes Unrecht und Fehler nicht wieder gut machen. Kern des Problems bleibt dennoch die Frage, wozu die DDR überhaupt einen Geheimdienst nötig hatte. Und diese Frage lässt sich nur mit dem unbedingten Kampf der USA und ihrer Verbündeten, auch der BRD, gegen den Sozialismus, gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten beantworten, der die Welt an den Rand eines Atomkrieges geführt hat und dessen Frontlinie quer durch Deutschland verlief. Dieser Kampf wurde mit allen Mitteln geführt. In diesem Zusammenhang müssen die Bemühungen der DDR um ihre eigene Sicherheit gesehen werden, zu denen auch die Stasi gehörte. Der Schriftsteller und ehemalige DDR-Bürger Hermann Kant sagte dazu, befragt nach seinen Verbindungen zur Staatssicherheit: „Wenn ich die DDR wollte, mußte ich auch ein Organ wollen, das in meinen Augen gedacht war, die DDR zu verteidigen“.
Der Unrechtsstaat
Es gibt viele Möglichkeiten, sich der DDR und ihrer Geschichte zu nähern. Eine, die in der Schule, aber auch in Fernsehdokus sehr beliebt ist, ist das Darstellen von Einzelschicksalen, die betroffen machen. „Zur Mauer haben wir in Geschichte einen Film geguckt, über die Flucht einer Familie aus der DDR, also darüber, wie schwierig es war, rauszukommen und was die dafür alles tun mussten“, sagt Katha. Solche Einzelschicksale werden immer wieder medial aufbereitet und zum Lehrmaterial für den Schulunterricht. Was dann meist nicht weiterbehandelt wird, sind die Gründe für den Bau der Mauer. Die einseitige Darstellung des durch das DDR-Grenzregime verursachten Leids suggeriert, einziger Zweck der Mauer wäre gewesen, die DDR Bürger zu schikanieren. Eine Regierung sperrt ihr Volk ein, heißt das dann in Schulbüchern. Was meistens nicht darin steht, sind die Worte, die der DDR-Autor Stefan Heym in der Schrift „Einführende Bemerkungen eines Reiseführers vor einem Reststück der Mauer“ zur Erklärung dieses Bauwerks fand: „Sie sehen also, meine Damen und Herren, dass die Mauer (…) aus der Not geboren war und nicht aus irgendwelcher bösartiger Willkür; sie diente dazu, den real existierenden Sozialismus in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vor dem Zusammenbruch zu bewahren, einem Zusammenbruch, der hier, an der Nahtstelle zwischen den beiden Machtblöcken jener von Atomraketen geprägten Zeit, mit großer Wahrscheinlichkeit zu kriegerischen Verwicklungen geführt hätte.“ Doch die Maßnahmen, mit denen der Westen die Teilung Deutschlands vorangetrieben hat, von der Währungsreform über die Gründung der BRD, der Ablehnung der Wiedervereinigungsangebote des Ostens und dem gezielten Abwerben ostdeutscher Fachkräfte, um die DDR wirtschaftlich auszubluten, werden gar nicht in Zusammenhang gestellt mit der daraus für die DDR resultierenden Notwendigkeit zur Schließung ihrer Westgrenze. In der Darstellung der DDR wird alles Unrecht, das in ihr verübt wurde, aus seinem geschichtlichen Kontext herausgerissen und zum reinen Sadismus eines despotischen „SED-Regimes“ erklärt. So entsteht aus der Erzählung von Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft das Bild vom „Unrechtsstaat DDR“. Ist dieser Begriff einmal gesetzt, erledigt sich damit jede weitere Befassung mit der DDR, denn alles, was in einem Unrechtsstaat geschieht, ist logischerweise Unrecht. Wozu weiter darüber nachdenken? Und auch das andere Ziel der offiziellen Darstellungsweise der DDR ist erreicht. Gegenüber dem „Unrechtsstaat DDR“soll der „Rechtsstaat BRD“ als moralischer Sieger dastehen, nach Abschluss der Beweisaufnahme, als die beste aller Welten.
Simon, Trier
Hintergrund: Die Mauer
Die Mauer diente zum Schutz der DDR und zum Erhalt des Friedens. John F. Kennedy sagte über sie, sie sei „keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg“. Zum Zeitpunkt ihres Baus im August 1961 erfüllte die Mauer aber zuallererst den Zweck, die massenweise Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte in die Bundesrepublik zu stoppen. Allein im ersten Halbjahr 1961 verließen etwa 200.000 Menschen die DDR. Unter denen die gingen waren viele AkademikerInnen, bis 1961 z.B. 87.000 Ärztinnen und Ärzte. Von ihnen, aber auch von den FacharbeiterInnen, hatten viele ihre Qualifikation dem ungeheuren Ausbau des Bildungs- und Ausbildungswesens durch die DDR zu verdanken, das dafür sorgte, dass eine große Zahl Jugendlicher aus der Arbeiterklasse qualifizierte Berufsabschlüsse erlangte. Allerdings lockte der Westen mit besserer Bezahlung und warb gezielt Arbeitskräfte aus der DDR ab. So konnte die BRD ihren steigenden Arbeitskräftebedarf decken, ohne selbst Ausbildungskosten zu tragen und ihr Ausbildungssystem ausweiten zu müssen. Der DDR gingen so mehr als 30 Milliarden DM an Ausbildungskosten verloren.
Zahlen übernommen aus: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1949-1990. München: C.H. Beck, 2008.
Hintergrund: Politisches Denken beeinflusst
In der Schule lernen wir, wie es angeblich wirklich gewesen ist. Aber welche Funktion hat dieser Geschichtsunterricht? „Im Geschichtsunterricht lernen die Schüler keineswegs nur, wie es – angeblich – gewesen ist. Sie erfahren hier zugleich, wie die vergangenen Formen von Staat und Gesellschaft aufzufassen und welche Konsequenzen daraus für Individuen und soziale Klassen in der Gegenwart abzuleiten seien. Der Schüler erhält also ein – durch den historischen Stoff vermitteltes – Orientierungsschema für die Gegenwart, das seine politischen Denk- und Verhaltensformen beeinflußt. Diese politische Komponente des Geschichtsunterrichts existiert unabhängig davon, ob der Geschichtslehrer oder der Geschichtsbuchautor bewußt darauf abzielt oder nicht. Welches Geschichtsbild in unseren Schulen vermittelt wird, ist also auch politisch bedeutsam.“
Aus: Reinhard Kühnl: Geschichte und Ideologie, Hamburg: Rowohlt, 1973.
Nachgefragt: IM, FDJ, keine Bananen. Fünf DDR-Bürger berichten
Natürlich war in der DDR nicht alles toll. Für die meisten ihrer BürgerInnen haben aber andere Sachen gezählt.
„Er hat immer das Grosse Ganze gesehen.“
Ellen Schernikaus Sohn Ronald hat 1989 die Staatsbürgerschaft der DDR angenommen. Im September 2014 wurde eine Gedenktafel an dem Haus in der Cecilienstraße 241 angebracht, in dem er in Ostberlin gewohnt hat.
„Ronald war Schriftsteller. Mit 8 Jahren hat er seine ersten Geschichten geschrieben. Kurz vor dem Abi hat er sein erstes Buch veröffentlicht, ein großer Erfolg. Für ihn stand fest, dass er Schriftsteller werden wollte. Die einzigen drei Institute weltweit, an denen Schriftsteller ausgebildet wurden, lagen in sozialistischen Ländern, eines davon in Leipzig. Über diese Zeit in Leipzig hat er seine Abschlussarbeit „Die Tage in L.“ geschrieben, die in der DDR nicht erscheinen konnte. Darüber hat er sich geärgert, genau wie über andere Dinge in der DDR, aber er sagte: „Die Dummheit der Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus.“ Er hat immer das große Ganze gesehen. Er wollte in einer Gesellschaft leben, die Zukunft hat. Das war für ihn die Hauptmotivation, bei einem Experiment dabei zu sein. Und die soziale Absicherung: das Recht auf eine Wohnung, das Recht auf Arbeit, das er notfalls auch einklagen konnte. In Westberlin hat er in einer total schlechten Wohnung gelebt, mit Existenzsorgen. Das gab es für Künstler in der DDR einfach nicht.“
Das war eine Errungenschaft
Uli Brockmeyer war seit 1964 Mitglied der FDJ, die er später beim Weltbund der Demokratischen Jugend vertrat
„Die FDJ wurde 1946 als antifaschistischer Jugendverband gegründet, der allen Jugendlichen offenstand. Es war eine Errungenschaft, dass die Jugendlichen der DDR nicht in vielen verschiedenen Verbänden organisiert waren, die je eigene Interessen vertraten, sondern dass die FDJ die Möglichkeit hatte, auf allen Ebenen die Interessen aller Jugendlichen zu vertreten und durchzusetzen. Zum Beispiel durch eine eigene Fraktion in der Volkskammer. Die FDJ musste in Schulen, Unis und Betrieben bei Grundsatzentscheidungen immer gefragt werden. Sie organisierte Freizeitaktivitäten in Jugendclubs, Ferienlagern und vieles mehr, hatte ein eigenes Reisebüro, über das vor allem Auslandsreisen organisiert wurden, in den 80er Jahren auch in fast alle kapitalistischen Länder. Einen Zwang zur Mitgliedschaft gab es nie, dennoch war der Organisationsgrad sehr hoch. Da war so mancher auch bloß aus ‚Pflicht‘, nicht aus Überzeugung dabei. Nichtmitglieder fühlten sich zuweilen ‚ausgeschlossen‘ und auch Nachteile für Nichtmitglieder hat es schon mal gegeben. Gegenbeispiele aber genauso. Einer meiner Mitschüler war gläubig und wurde nie Mitglied, Freunde waren wir trotzdem.“
Was heißt denn Mangel?
Jörg Roesler (73) hat als Professor in der DDR und den USA über die Geschichte der DDR-Wirtschaft geforscht.
„Mit Mangelwirtschaft können – bezogen auf die Versorgung mit Konsumgütern – zwei unterschiedliche Dinge gemeint sein: Im ersten Falle fehlen den Bürgern lebensnotwendige Dinge. In der DDR war das in den Nachkriegsjahren der Fall. Erst Ende der 50er Jahre war der Grad der Versorgung der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg z. B. beim Pro-Kopf-Verbrauch von Butter, Trinkmilch, Schweinefleisch oder bei heimischen Obst- und Gemüsesorten erreicht bzw. überboten.
Aber einen Mangel anderer Art gab es auch weiterhin: In der Angebotspalette der Verkaufsläden fehlten häufig Dinge, die der DDR-Bürger gern gehabt hätte bzw. die er für diesen oder jenen Zweck benötigte, deren Angebot aber beschränkt blieb, weil es an Devisen mangelte oder an Produktionskapazitäten. Dazu gehörten z. B. bestimmte Rindfleischsorten, Südfrüchte, Bananen, Ausrüstungen für Heimwerker oder Autoersatzteile.
Im Unterschied zur Mangelwirtschaft ersten Grades nahm die zweiten Grades bei gestiegener Kaufkraft und besserer Information über das Angebot in der BRD mit den Jahren nicht ab, sondern in der Wahrnehmung vieler DDR-Bürger eher zu. Anders als beim Mangel an lebensnotwendigen Produkten zeigte, dieser Mangel die Knappheit einzelner begehrter Güter an, aber nicht einen allgemeinen Gütermangel.“
„IM für die DDR? Klare Sache!“
Arnold Schölzel (66) arbeitete als inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit – aus Überzeugung. Heute ist er Chefredakteur der Tageszeitung Junge Welt.
„Die Idee hatte ich schon, bevor ich als 19jähriger 1967 von der Bundeswehr in die DDR desertierte: Nach Ostberlin fahren und fragen, ob Hilfe gebraucht wird. Ich war durch die Kindheit und Jugend im Wiederaufrüstungsstaat, die leitenden Altnazis und die Bekämpfung der Revolution in Kuba, in Algerien, in Vietnam durch die westliche Wertegemeinschaft jedenfalls vorbereitet auf die Idee, für die DDR zu arbeiten. Hinzu kam noch die Unverschämtheit, Wehrpflichtige in eine Armee zu stecken, die im Geiste der Wehrmacht und mit Wehrmachtsoffizieren an der Spitze Kanonenfutter liefern sollte – da half nur eine sozialistische Staatsmacht. Als ich 1972 angesprochen wurde, für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten, hatte ich nichts dagegen – im Gegenteil. Die Genossen interessierten sich nie für meinen Studien- oder beruflichen Bereich, wurden aber aufmerksam, als ich in eine Gruppe von Mitabsolventen eingeladen wurde. Sie arbeiteten konspirativ, hatten Rückhalt in einigen DDR-Institutionen und nahmen rasch Kontakt nach Westberlin auf, zu westlichen Geheimdiensten. 1977 wurde die Gruppe mit meiner Hilfe aufgelöst. Ihren Berufsweg setzten die meisten dieser Leute fort, standen aber folgerichtig mit an der Spitze der Konterrevolution von 1989. Der Import von Massenarbeitslosigkeit in die DDR und die sich abzeichnenden deutschen Kriege interessierten sie wesentlich weniger als persönliches Herumtrampeln auf DDR-Geschichte und MfS. Das gilt bis heute.“
„Ich hätte nicht in den Westen gemusst.“
Wie war das mit der Reisefreiheit? Andreas (49) erzählt.
„In meinem Bekanntenkreis haben die Wenigsten gesagt, sie wollen auch mal in den Westen fahren. Da haben wir gar nicht drüber geredet – was willst du über ungelegte Eier reden. Im Westen, wenn das erlaubt gewesen wäre, hätten die ja auch nicht wegfahren können, weil sie kein Geld hatten. Nur einen Bekannten, den hat gestört, dass er nicht so viel Geld umtauschen durfte, wenn er nach Ungarn gefahren ist, und die aus dem Westen, die machen den Maxe da. Am Anfang war es ja noch schwierig, sogar für die Rentner, rauszukommen. Aber mit der Zeit wurde das immer lockerer. Mit der Reisefreiheit, das hat vielleicht einen Teil der DDR-Bürger gestört, aber man muss sich doch mal anschauen, wo wir hinreisen konnten – nach Ungarn, in die Sowjetunion, ich war mal vier Wochen zum Studentenaustausch in Bulgarien. Und im September 89 war ich ganz offiziell im Westen, da habe ich meinen Opa zum Geburtstag besucht. Als dann die Wende kam, das war was anderes, da sind sie alle in den Westen gefahren und haben sich ihre 100 Mark abgeholt, ob sie es nun nötig hatten oder nicht. Dann sind sie wieder zurück. Ich bin dann 1996 in den Westen, weil ich Arbeit brauchte. Mein Traum war das nicht, ich wäre auch zu Hause geblieben, wenn ich Arbeit gefunden hätte.“
Theorie: Zwei Staaten, zwei Wege. Die Geschichte der DDR darf nicht aus ihrem Zusammenhang gelöst werden
Zwei deutsche Staaten: Nach der Befreiung vom Faschismus gingen die beiden Teile Deutschlands unterschiedliche Wege.
Als sich die Wehrmacht am 09. Mai 1945 bedingungslos den alliierten Streitkräften ergab, lagen der deutsche Faschismus und seine Hintermänner aus den Reihen des Kapitals geschlagen am Boden – Hunderttausende Tote in Westeuropa und Millionen Ermordeter in den z.T. völlig verheerten Gebieten der Sowjetunion und Südosteuropas sowie 6 Millionen industriell vernichtete Juden waren die Bilanz des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Um den Faschismus zu besiegen, musste v.a. die Sowjetunion einen hohen Blutzoll zahlen: 11,4 Millionen Soldaten und mehr als 15 Millionen getötete Zivilisten machen die UdSSR zum am stärksten vom Krieg zerstörten Land der Welt. Die Ausgangsbedingungen, unter denen sich an den Wiederaufbau gemacht werden konnte, waren in Ost und West also gänzlich verschieden: Die Sowjetunion war, anders als die Westallierten, großflächig zerstört – und benötigte daher eine große Menge an Reparationszahlungen. Diese wurden, nach der Aufteilung Deutschlands in 4 Besatzungszonen, jedoch allein von der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der späteren DDR geleistet. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden dann auch – das Potsdamer Abkommen konsequent umsetzend – alle vormals führenden Nazis aus dem öffentlichen Leben verdrängt und juristisch verfolgt, Deutschland demilitarisiert und wirtschaftliche Trusts und Kartelle zerschlagen. In Westdeutschland wurde mit Entnazifizierung und Entmonopolisierung schnell Schluss gemacht, um einen westdeutschen Staat zu schaffen und diesen letztlich als Frontstaat gegen „den Ostblock“ zu nutzen. Vor diesem Hintergrund spielte sich die Gründung der DDR ab – wer das vergisst, kann die Entwicklung nicht sachlich beurteilen. Deshalb kann man die Geschichte der DDR nicht von ihrem Ende aus erzählen – man muss von vorn beginnen.
Front gegen die Sowjetunion
Der Krieg war noch keine zwei Jahre vorbei, da begannen Großbritannien und die USA bereits, wirtschaftspolitisch und rhetorisch gegen die Sowjetunion zu schießen: 1946 sprach Winston Churchill vom „Eisernen Vorhang“, der die „freie Welt“ vom Kommunismus trenne und davon, im Zweiten Weltkrieg „das falsche Schwein“ geschlachtet zu haben. Während Churchill die „westliche Welt“ dazu aufrief, sich gegen eine angebliche kommunistische Gefahr militärisch zu rüsten, drängten die USA seit 1947 auf einen westeuropäischen Staatenbund als Bollwerk gegen die Sowjetunion. Im Zuge der Politik des containment (Eindämmung) unterstützte man dann zum einen antikommunistische Regime mit Waffen und Personal, half anderen europäischen Ländern zum anderen mit „Fördergeldern“ des so genannten Marshallplans – jedoch nur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, die für die Volksdemokratien und die SBZ von vorne herein unannehmbar waren.
Während also in den westlichen Besatzungszonen Entnazifizierung und Reparationszahlungen eingestellt wurden, sogar der – durch den massiven Einsatz von Zwangsarbeitern im Krieg – sowieso starken westdeutschen Wirtschaft zusätzlich unter die Arme gegriffen wurde und ranghohe Nazis in allen Bereichen des politischen und wirtschaftlichen Lebens wieder führende Funktionen einnahmen, musste die SBZ die Reparationslasten für die UdSSR völlig allein tragen. Die Westalliierten und die Gruppe um Konrad Adenauer taten alles dafür, einen westdeutschen Staat zu schaffen, der mit den westlichen, kapitalistischen Ländern verbündet sein sollte – bis hin zur späteren NATO-Mitgliedschaft. Um eine „deutsche Einigung“ ging es ihnen dabei nie. Wie ging man in der SBZ und der UdSSR damit um?
„Lieber das halbe Deutschland ganz“
Wäre es nach der UdSSR und Stalin gegangen, wäre es 1948 nie zu einer deutschen Teilung gekommen. Stalin wäre ein neutrales, einheitliches Deutschland lieber gewesen als eine DDR auf kleinem Territorium und in direkter militärischer Frontstellung zu einer aufgerüsteten und in westlichen Strukturen organisierten BRD. In der so genannten Stalinnote bot die UdSSR dem Westen noch 1952 die Wiedervereinigung eines neutralen Deutschlands an – was vom Westen und der westdeutschen Regierung Adenauers jedoch strikt abgelehnt wurde. Nicht erst nach der Gründung der BRD bzw. der DDR, sondern schon kurz nach dem Krieg wurde alles versucht, das westdeutsche Territorium für die Bekämpfung des Sozialismus zu nutzen. Ein neutrales, blockfreies Deutschland hätte dem im Weg gestanden und war daher keine Option. Außerdem stand diese Forderung vor allem. der CDU entgegen, die sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine „Heimholung der deutschen Ostgebiete“ einsetzte. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) brachte auf den Punkt, worauf seine Politik hinauslief: „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.“ Im Zuge dieser Strategie begannen die westlichen Besatzungszonen und die spätere BDR früh damit, gezielt qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Osten abzuwerben, um diesen wirtschaftlich ins Mark zu treffen: Allein zwischen 1945 und 1961 verloren die SBZ bzw. die DDR so 3 Millionen Arbeitskräfte.
Im Zusammenhang sehen
Als Reaktion auf dieses wirtschaftliche Ausbluten und die Westintegration (die in der Gründung der BRD 1949 gipfelte) setzten die Führung in der SBZ und die UdSSR verstärkt auf eine Politik der harten Hand und verstärkte Repression: Aufgebaute demokratische Strukturen wurden eingedämmt, die Außenpolitik weitgehend sowjetischen Imperativen untergeordnet. Diese Politik war zu einem guten Teil eine Reaktion auf die Politik des Westens – das macht sie nicht unbedingt richtig, aber es gehört zur historischen Wahrheit dazu. Diese Politik drängte Ulbricht und die Sowjetunion letztlich dazu, auf die Gründung der BRD mit der Gründung der DDR zu antworten und – als das wirtschaftliche Ausbluten und die drohende Kriegsgefahr immer noch nicht gestoppt wurden bzw. werden konnten – dem Bau der Mauer im August 1961. Die Mauertoten, auf der Flucht getötete DDR-Bürger, stehen oft im Mittelpunkt bürgerlicher Beschäftigung mit der DDR. So wird versucht, die Geschichte des Staats auf Tote und Verbrechen zu beschränken, ohne ein Wort darüber zu verlieren, welche konkreten Ereignisse und Umstände zum Bau der Mauer, zur Gründung der DDR und der verhärteten Blockbildung geführt haben. Die antikommunistische Geschichtsschreibung verschweigt, dass die Regierung und das Kapital der Bundesrepublik alles daran setzten, um den Osten Deutschlands wieder unter ihren Einfluss zu bringen.
Zerstörung in den Köpfen
Die DDR war in jeder Hinsicht gezwungen, die Zerstörungen zu beseitigen, die Faschismus und Krieg hinterlassen hatten. Dazu gehörte nicht nur, dass Betriebe wiederaufgebaut und Reparationen gezahlt werden mussten. Dazu gehörte auch, dass große Teile der Bevölkerung bis 1945 der Propaganda der Nazis ausgesetzt waren, dass Antikommunismus und rassistische Hetze an vielen nicht spurlos vorübergegangen waren. Viele identifizierten sich sogar mit dem Naziregime und hatten Angst, wenn „der Russe kam“. Mit Terror und Mord hatten die Hitlerfaschisten gegen die Arbeiterbewegung gekämpft, selbst unter Arbeitern war das sozialistische Bewusstsein nicht besonders ausgeprägt. Einen Staat der Arbeiter und Bauern aufzubauen, wenn ein großer Teil der Arbeiter und Bauern diese Notwendigkeit noch nicht vollständig einsieht, war eine gewaltige Aufgabe. Aber die einzige Alternative wäre gewesen, den gleichen Weg zu gehen wie der Westen Deutschlands: Die alten Nazis wieder als Staatssekretäre, Minister und Generäle einzusetzen und den alten Konzernen, die Hitler an die Macht gebracht hatten, wieder die Betriebe zu überlassen.
Moritz, Bochum
Tipps zum Weiterlesen
Ralph Hartmann: DDR unterm Lügenberg
Berlin: edition ost, 2009, 9,95 Euro
Hartmann widmet sich den typischen Stichworten, die immer wieder in der antikommunistischen Propaganda über die DDR fallen, wie z.B. verordneter Antifaschismus, marode Wirtschaft, drohender Staatsbankrott oder Erziehungsdiktatur. Hartmann greift diese Stereotype auf und fragt nach ihrem Wahrheitsgehalt.
Jörg Roesler: Geschichte der DDR
Köln: Papyrossa Verlag, 2013, 9,90 Euro
Roesler geht von einem marktsozialistischen Standpunkt an die Geschichte der DDR heran, für ihn stellt sich die Frage, wie sich Plan und Markt vereinbaren lassen – dementsprechend sieht er den Bruch mit Ulbrichts Wirtschaftsreformen der 60er Jahre als Anfang vom Ende der DDR. Wenn man dies berücksichtigt, bietet er eine knappe Einführung in die DDR-Geschichte jenseits der Vorurteile des bürgerlichen Mainstreams und ordnet sie ein – sowohl in die Beziehungen zur Sowjetunion als auch in die Systemauseinandersetzung, in der die DDR eine besondere Rolle spielte.
Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR
Darmstadt: Primus Verlag, 2008, 29,90 Euro
Die britische Historikerin schreibt von einem bürgerlichen, aber dennoch erfrischend vorurteilsfreien Standpunkt aus über das Alltagsleben in der DDR jenseits der üblichen antikommunistischen Dämonisierung. Auch wenn sie wirklich nicht wohlwollend auf die politischen Verhältnisse in der DDR blickt, kommt sie doch, im Gegensatz zu so vielen ihrer Kollegen, zum Ergebnis, dass „ein ganz normales Leben“ eben auch in der DDR
Horst Schneider: Das Gruselkabinett des Dr. Knabe(lari)
Berlin: Spotless, 2011, 9,95 Euro
Im Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ aus den 1920ern führt der Doktor die Besucher seines Kabinetts mit geschickt verzerrten Kulissen und irreführender Beleuchtung hinters Licht. Der ostdeutsche Historiker Horst Schneider zeigt in seinem Buch auf, wie es Dr. Hubertus Knabe in der Gedenkstätte Hohenschönhausen dem Dr. Caligari nachtut. Mit Täuschungen und Lügen zieht dieser Doktor mit offiziellen Weihen gegen die DDR zu Felde. Glauben sollte man ihm dabei nicht. möglich war und beschreibt kenntnisreich, wie es ausgesehen hat.
Stefan Heym: Fünf Tage im Juni
München: btb, 2005, 9,99 Euro.
Der Parteisekretär fragt den Gewerkschaftsfunktionär Witte: „Wirst du die
Erhöhung der Arbeitsnorm unsern Arbeitern gegenüber vertreten oder nicht?“ Damit steht dieser mitten in dem Konflikt, der zu den Ereignissen des 17. Juni führte. Heym erzählt von den Versuchen, die höheren Normen von oben durchzudrücken, von der Unzufriedenheit der Arbeiter und davon, wie diese Fehler von den Gegnern des Sozialismus für den konterrevolutionären Aufstand vom 17. Juni 1953 ausgenutzt wurden.
Auf die eigene Kraft vertrauend
In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit, das Schulsystem war besser und die Leute waren netter zueinander. So denken viele ehemalige DDR-BürgerInnen. Bloß Ostalgie, oder was steckt dahinter? Wie lebte es sich im Arbeiter-und-Bauern-Staat? Vom Ende der Konkurrenz bis zur planmäßigen Befriedigung der Bedürfnisse: Der Sozialismus verändert alles. Wie das ausgesehen hat, lest ihr auf den Seiten 14 bis 23.
Einleitung: Unbegreiflich? Unsere Autorin versteht ganz gut, wieso ihre Mutter ein positives Bild von der DDR hat.
Politiker und Medien beklagen sich gern darüber, dass die Menschen in Ostdeutschland noch immer zu gut über die DDR-Vergangenheit denken. Warum haben eigentlich so viele Leute ein positives Bild von der DDR? Vielleicht ja, weil es ihnen so ging wie meiner Mutter. Meine Mutter und ich wohnen in Jena, das vor 1990 nicht nur für die Uni bekannt war. Es war eine bedeutende Arbeiterstadt. Das Carl-Zeiss-Werk umfasste 1989 in Jena 30 000 Mitarbeiter, wegen der Massenentlassungen nach dem Ende der DDR sind es heute nur noch 3.000. Meine Oma kommt aus Saalfeld, einer Kleinstadt, ungefähr 40 Minuten mit dem Zug entfernt. Sie ist ausgebildete Industrieschneiderin. Zur Zeit des Faschismus hat sie nur 8 Jahre lang die Schule besucht und war im Bund Deutscher Mädchen. Zudem ist sie streng katholisch erzogen worden. Meine Mutter wurde 1969 als uneheliches Kind geboren und wuchs im Hinterhof einer Bäckerei auf. Beide mussten sich lange ein Zimmer teilen. Meine Mutter ist in Saalfeld zur Schule gegangen und hat dort auch ihr Abitur an der polytechnischen Oberschule gemacht. Sie war eine sehr gute und fleißige Schülerin, die beste junge Schachspielerin im Bezirk. Da sie ihr Mathe- und Physiklehrer besonders beeindruckte, wollte sie Lehrerin werden. Also zog sie 1987 mit 18 Jahren nach Jena, um ein Studium zur Mathe und Physiklehrerin zu beginnen. Sie studierte 2 Jahre bis zur „Wende“. Ihr Studium wurde ihr nach 1989 nicht vollständig anerkannt. Dem mittlerweile sehr harten Referendariat war sie als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern nicht gewachsen. Ihr Lebensweg, der bis dahin vom Lernen und Weiterkommen geprägt war, wurde durch die „Wende“ erst einmal jäh unterbrochen. Letztlich hat sie es mit 39 Jahren dann doch noch geschafft, Lehrerin zu werden, 1,5 Stunden von Jena entfernt arbeitet sie schlecht bezahlt an einer Privatschule als Mathe- und Physiklehrerin. Und sie weiß, dass sie als Kind einer armen, ungebildeten und alleinerziehenden Frau im heutigen System nie hätte studieren können. Ohne die DDR hätte es für sie und viele andere keinen Traumberuf gegeben. Auch darum fühlt sie sich noch heute eng mit der DDR verbunden.
Der ganz normale Aufstieg: Ein Staat der Arbeiter und Bauern – was heißt denn das? Zum Beispiel, dass man dem Vorgesetzten eins überbraten kann – und, dass man es besser weiß.
In der DDR herrschten die arbeitenden Menschen – mit aller Verantwortung und mit allen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt.
Der Sozialismus ist eine Servicewüste. Unfreundliche Verkäuferinnen, chaotische Hotels und faule Kellner ziehen sich wie ein roter Faden durch die Berichte von Besuchern aus den westlichen Ländern im „Ostblock“. Natürlich kamen diese Besucher häufig mit dem Auftrag, zu beweisen, dass in der „Zone“ nichts richtig funktionierte, dass eine Wirtschaft ohne Unternehmer nicht funktionieren kann. Aber etwas ist schon dran an diesen Beobachtungen. Wir sind daran gewöhnt, dass der „Kunde König“ ist. Wer Geld hat, kann erwarten, ohne Widerrede bedient zu werden. Ein Verkäufer oder eine Kellnerin müssen manchmal auch mit den dümmsten und arrogantesten Vorwürfen klarkommen, ohne dass sie dem „König Kunden“ die Meinung sagen können.
Keine Angst
In der DDR war das anders. Das hieß, dass manchmal der Service nicht so reibungslos lief, dass das Lächeln der Bedienung nicht so glatt war, dass eben der Kunde sich nicht als König fühlen konnte, nur weil er oder sie genügend Geld in der Tasche hatte. Daran zeigte sich aber auch etwas, was das Leben in der DDR prägte, was die Haltung der Menschen bis in den alltäglichsten Handgriff beeinflusste: Die Menschen hatten keine Angst davor, ihren Job zu verlieren. In ihrem Land gab es keine Arbeitslosen, und kein Chef konnte einen Mitarbeiter so einfach auf die Straße setzen. „Das war ein Ausdruck von Freiheit“, so die Journalistin Claudia Wangerin, „auch wenn es für den, der eine missgelaunte Verkäuferin antraf, eben kein freundliches Lächeln bedeutete.“
Wessen Freiheit?
Dianas Mutter ist Fleischwarenfachverkäuferin. Sie ist nach der „Wende“ nicht sofort entlassen worden, sie hatte Glück. Entlassen worden ist sie erst, als sie ihrem Chef einmal klarmachte, dass seine Arbeitsorganisation unsinnig ist – „so kennt sie das halt aus der DDR“, erzählt Diana. Aber in unserer Gesellschaft, in der Marktwirtschaft der Bundesrepublik, ist es nicht vorgesehen, dass sich die Beschäftigten zu sehr einmischen in die Art und Weise, wie die Arbeit gemacht wird. Wir haben unsere Betriebsräte, wir haben unsere Gewerkschaften, wir haben das Recht auf „Mitbestimmung“. Aber diese „Mitbestimmung“ hat eine klare Grenze. Was wird produziert? Auf welche Weise wird gearbeitet? Für welche Kunden arbeitet das Unternehmen? Zu welchem Preis wird eine Dienstleistung angeboten? Bei diesen Entscheidungen gibt es keine Mitbestimmung. Denn der Unternehmer darf zwar nicht alles mit uns machen. Aber seine „unternehmerische Freiheit“, sein Recht, mit dem Betrieb, der ihm gehört, zu machen, was er für richtig hält, bleiben dabei immer gesichert. Die Freiheit des Unternehmers und die Freiheit des Mitarbeiters sind zwei verschiedene Dinge.
Wende im Selbstbewusstsein
Wenn wir etwas über die DDR hören, dann geht es meist um die Freiheit, die es dort nicht gab. Mit der DDR verbinden wir die merkwürdigen Bilder von Paraden, bei denen alte Männer von der Tribüne winken, die seltsame Sprache aus den Verlautbarungen der Partei und dass dort vieles so anders, so altbacken und so viel weniger modern wirkte als im Westen. Aber wenn wir verstehen wollen, was die DDR war, dann müssen wir versuchen, zu sehen, was hinter diesem DDR-Look stand, was das Leben dort ausmachte. Walter Schmidt, heute Rentner, hat den Unterschied zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus, an seinem Arbeitsplatz im Chemiekombinat Bitterfeld (CBK) erlebt. Er war Wirtschaftssekretär der SED im Kombinat, aber dann, nach der „Wende“, im Januar 1990, wurde er von seinem Posten entfernt, weil er den Übergang in die Marktwirtschaft nicht ohne Widerspruch hinnehmen wollte. Nun arbeitete er in der Produktion des riesigen Chemiebetriebs, und auch hier diskutierte er mit seinen Kollegen über die Zukunft. „Ich habe gesagt, es vergeht kein Jahr mehr, dann ist hier alles dicht. Dann vernichtet der Gegner das ganze Kombinat.“ Diese Ungewissheit darüber, wie es weitergeht am eigenen Arbeitsplatz, das war für viele DDR-Bürger eine der ersten Erfahrungen in der neu gewonnenen „Freiheit“. „Ich habe die Leute nicht wieder erkannt, wie die sich auf einmal duckten, wie die willfährig die Anweisungen des Direktors und des Meisters erfüllten“, erzählt Schmidt. „So ein Wandlungsprozess innerhalb weniger Wochen, das hätte ich nie für möglich gehalten.“
Weil sie es besser wussten
Denn noch kurz zuvor, vor der „Wende“ von 1989, hatten die Kolleginnen und Kollegen eine andere Haltung. „Es war selbstverständlich, dass die Arbeiter ganz selbstbewusst auftraten“, erinnert sich Walter Schmidt. „Wenn was nicht stimmte, dann holten sie die Partei oder die Gewerkschaftsleitung. Dann sind sie aufmüpfig geworden – aber nicht einfach so, sondern weil sie es besser wussten. Sie hatten ja auch eine ganz solide fachliche Ausbildung.“ Auch Diana weiß von ihrer Mutter, dass die Arbeit in der DDR anders war: „Sie hat mir erzählt, dass sie damals im Konsum miteinander besprochen haben, wie man die Arbeit machen muss, sie haben das kollegial organisiert. Natürlich gab es da auch einen Chef, aber der hat dann gefragt: Mädels, was denkt ihr darüber? Und dann haben sie zusammen entschieden. Das war dann mit der Wende vorbei.“
Nicht vereinbar
Dieses Selbstbewusstsein, dieser Stolz der arbeitenden Menschen konnten die „Wende“ nicht überleben. Wer von seinem Chef herumkommandiert wird, wer bei einem Vorstellungsgespräch darum bitten muss, für einen anderen arbeiten zu dürfen, wer arbeitslos zu Hause sitzt, weil er keinen Job findet, hat es schwer, ein solches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Die zwei Arten der Freiheit – die Freiheit des Unternehmers und die Freiheit der arbeitenden Menschen – schließen einander aus. Sie stehen für zwei verschiedene Entwicklungswege, für zwei verschiedene Gesellschaftssysteme. Nach dem zweiten Weltkrieg stand ganz Deutschland vor der Frage, welchen dieser beiden Wege es einschlagen sollte.
Verlorene Ostwerte
Die Chemiebetriebe in Bitterfeld, in denen Walter Schmidt tätig war, waren vorher ein Teil der IG Farben gewesen, dem riesigen Chemiekonzern, der seit den 20er Jahren die gesamte deutsche Chemiebranche kontrollierte, der Hitler zur Macht verhalf und der zu den größten Profiteuren von Massenmord und Krieg gehörte. Dieser Konzern produzierte das Zyklon B für den industriellen Massenmord, er lieferte viele Produkte, die notwendig waren für den Eroberungskrieg der Faschisten. 1945 übernahm die Sowjetunion die Betriebe in Bitterfeld, sowohl ein Teil der Produkte als auch ein Teil der Maschinen wurden als Wiedergutmachung für den Krieg in die Sowjetunion gebracht. Nun ging es darum, die Produktion wieder zum Laufen zu bringen und für den Bedarf der Bevölkerung zu produzieren, nicht für die Eroberungspolitik der Nazis. 1954 übergab die Sowjetunion diese Betriebe an die DDR, von da an waren auch die Chemiewerke in Bitterfeld ein Volkseigener Betrieb. So oder ähnlich war es in der ganzen DDR. Die Herren der Konzerne waren nach dem Krieg zunächst weg, es waren die Arbeiter, die die Trümmer wegräumten und die Produktion wieder in Gang brachten. 1946 entschieden sich 77 Prozent der Wahlberechtigten in Sachsen in einem Volksentscheid dafür, die Betriebe der aktiven Nazis und Kriegsverbrecher, die Werke der großen Monopole zu enteignen. Auch die Großgrundbesitzer, die Junker, die in der deutschen Geschichte eine besonders reaktionäre Rolle gespielt hatten, wurden enteignet. Landarbeiter, kleine Bauern, Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Gebieten z.B. in Polen erhielten ein Stück Land. Diese Entscheidungen waren Vorbild für die ganze sowjetische Zone, aber sie blieben nicht ohne Widerstand. Die Großunternehmen, die im Osten enteignet worden waren, konnten im Westen weiter bestehen. Die Verluste, die ihnen die Enteignung brachte, tauchten als „verlorene Ostwerte“ in den Bilanzen auf und wurden an den Börsen gehandelt, und die Konzernherren setzten alles daran, um diese „Ostwerte“ wieder in ihren Besitz zu bringen. 1989 hatten sie damit Erfolg.
Politische Voraussetzungen
Um eine neue Gesellschaft aufzubauen, war deshalb mehr nötig, als nur die Wirtschaft neu zu organisieren. Die Enteignung der Konzerne hatte politische Voraussetzungen. 1946 vereinigten sich in der „Zone“ die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Sie zogen die Lehre aus der Vergangenheit: Damit die Arbeiterklasse selbst bestimmen kann, braucht sie eine einige Arbeiterpartei, eine Partei, die sich den Aufbau einer neuen wirtschaftlichen Ordnung und einer neuen politischen Macht zum Ziel setzt. Auch im Staat übernahmen neue Kräfte die wichtigen Positionen: In der späteren DDR waren ehemalige KZ-Häftlinge Minister, ehemalige Wehrmachts-Deserteure Generäle, ehemalige Spanienkämpfer Polizeipräsidenten.
„Elitenwechsel“
Dazu gehörte auch, das Bildungswesen völlig neu zu organisieren. Erika Baum gehörte zu denjenigen, die die alten Nazilehrer ersetzten und eine antifaschistische, demokratische Schule ermöglichten, eine Schule, die gerade auch Kindern und Jugendlichen aus Arbeiter- und Bauernfamilien den Zugang zu einer umfassenden Bildung eröffnet. Sie kam aus einer Wiener kommunistischen Arbeiterfamilie und hatte sich als junge Frau am Widerstand gegen Hitler beteiligt. Ihr späterer Mann Bruno Baum war als Kommunist in Auschwitz eingesperrt und hatte selbst dort an der Organisierung des illegalen Widerstands gearbeitet. Von dort war er in das österreichische KZ Mauthausen gebracht worden, nach der Befreiung lernten sich beide in Wien kennen. Wer verstehen will, was die DDR war, der sollte sich auch fragen, was sie für solche Menschen bedeutete: Im einen Teil Deutschlands behielten die alten Nazis, die Juristen, Generäle und Professoren Hitlers die wichtigen Funktionen. Im anderen Teil wurden sie ersetzt – „Elitenwechsel“ nennt das der bürgerliche Historiker Arnd Bauerkämper.
Selbst die Kräfte anspannen
Die Monopole und die Junker waren enteignet, das Bildungsprivileg der alten Eliten gebrochen, ein neuer, demokratischer Staat aufgebaut. Dieser Staat setzte sein Vertrauen in die Arbeiterschaft, die die Betriebe wieder zum Laufen gebracht hatte, in die Antifaschisten, die aus Illegalität und KZ kamen, in die armen Bauern, die nun ein Stück Land besaßen, in die Intellektuellen, die sich von überkommenen Vorstellungen lösten. Der Wiederaufbau im Westen stützte sich auf ganz andere Kräfte – auf das deutsche Kapital und auf US-amerikanische Kredite aus dem Marshall-Plan. Die SED erklärte dazu: „Der Aufbau der deutschen Industrie mit Hilfe amerikanischer Anleihen darf nicht dazu dienen, deutschen Monopolherren die Gelegenheit zu geben, die Industrie erneut zu Kriegszwecken zu missbrauchen. Das deutsche Volk muss selbst seine eigenen Kräfte anspannen, um die friedlichen Zwecken dienende Wirtschaft aufzubauen.“ Vertrauen in die eigene Kraft, oder Vertrauen darauf, dass kapitalistische Unternehmer und ausländisches Geld die Lösung bringen – vor dieser Entscheidung stand Deutschland, und die beiden Teile unseres Landes gingen unterschiedliche Wege.
Wissen als Waffe
Aber dieses Vertrauen in die eigenen Kräfte hieß auch, von jedem einzelnen zu erwarten, Verantwortung zu übernehmen, dazuzulernen, und zwar schnell. Wie Walter Schmidt, der aus einer armen Bauernfamilie kam und eine Schlosserlehre machte. Später bekam er die Möglichkeit, an einem Meisterlehrgang teilzunehmen – neben dem Beruf. Wie Erika Baum, die gerade nach Berlin gekommen war, schon als Schulhelferin Kinder unterrichtete und nachmittags selbst lernte. Wie die Studierenden der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF), die Erika Ende der 50er unterrichtete. An den ABF sollten sich junge Menschen aus Arbeiter- und Bauernfamilien auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Aber sie sollten keine Akademiker im traditionellen Sinne werden, sie sollten sich nicht von der Arbeiterklasse entfernen, sie sollten fachliche Qualifikation mit politischem Bewusstsein verbinden. Für diese Studierenden war das Lernen ein Teil des Klassenkampfes. Die Seminargruppe, die Erika leitete, stellte die Losung auf: „Jede eins ein Schlag gegen Adenauer!“ Vielleicht finden wir das heute merkwürdig und engstirnig, aber die Logik dahinter ist einfach: Das Wissen, dass sie sich an der ABF aneigneten, war eine Waffe im Kampf gegen den Imperialismus, ein Werkzeug zum Aufbau einer neuen Ordnung. Über diese Menschen sagte der Dichter Bertolt Brecht, sie seien Intellektuelle, die „nicht aus, sondern mit dem Proletariat aufgestiegen sind.“ Es ging um die Herausbildung einer neuen, sozialistischen Intelligenz – denn „die ganzen Akademiker vor uns“, so Erika Baum, „hatten sich ja auf das Heftigste blamiert mit ihrer Anhängerschaft oder ihrer Duldung der Nazis.“
Ausnahme und Regel
Die SED und die Regierung haben diese Aufforderung an die Masse der Bevölkerung, selbst Verantwortung zu übernehmen, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, nicht immer durchgehalten. Das müssen wir kritisieren, aber wir dürfen nicht den Zusammenhang vergessen: Die Unternehmer und die Regierung aus dem Westen lauerten auf jede Gelegenheit, um das andere Deutschland wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Es gab Ausnahmen von der Regel, dass der Sozialismus eine höhere Form der Demokratie hervorbringt, und zwar viel zu viele. Denn der Sozialismus garantiert nicht, dass keine Fehler gemacht werden – aber er schafft die Möglichkeit, solche Fehler zu korrigieren, eine Möglichkeit, die wir im Kapitalismus nicht haben. Denn Krise und Krieg, Armut und Arbeitslosigkeit sind. im Kapitalismus keine Fehler, sondern Teil des Systems.
Nichts Besonderes
Im Sozialismus haben andere Dinge System: z.B. eben qualifizierte Bildung und Ausbildung für jeden. Darum produzierte das Bildungssystem der DDR keine Sackgassen, denn der Sozialismus ist auf gebildete Menschen angewiesen. Die Biographien vieler DDR-Bürger erzählen davon, wie junge Männer und Frauen aus einfachen, oft wenig gebildeten Familien sich zu verantwortlichen Positionen qualifizierten. Walter Schmidt war erst Schlosser, dann Wirtschaftssekretär der SED in einem Kombinat mit 18.000 Beschäftigten. „Das war nicht die Ausnahme. Das kannst du überall beobachten, dass in der DDR die Abeiter- und Bauernkinder sehr gefördert worden sind und sogar bevorzugt worden sind. Aber die fachlichen und gesellschaftlichen Qualifikationen mussten nachgewiesen werden, ohne die ging das nicht.“ Auch für Erika Baum war ihre Entwicklung nichts Besonderes. „Wir waren ja eine große Zahl von Leuten, die eine ähnliche Entwicklung gemacht haben – Gott, was haben wir alles gelernt, was ich alles lernen musste! Das war ja eine Zeit, in der ungeheure, grundlegende Veränderungen im Denken vor sich gingen und organisiert werden mussten.“
Ein anderes Wirtschaftswunder
Dass die arbeitenden Menschen lernen und Verantwortung übernehmen war in der DDR nicht die Ausnahme. 1972 nahmen 25 Prozent aller Berufstätigen an einer organisierten Form der Weiterbildung teil, genau so viele reichten so genannte „Neuerervorschläge“ ein, Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit, der Qualität, der betrieblichen Abläufe usw. Diese Verantwortung war die Grundlage für das Selbstbewusstsein der Menschen in der DDR. Schön war deshalb noch lange nicht alles. Der Staat wollte, dass seine Bewohnerinnen und Bewohner arbeiten, sich bilden und außerdem am besten noch an den Versammlungen der Gewerkschaft, der FDJ, der SED und anderer Organisationen teilnehmen. Das Vertrauen in die Arbeiterklasse konnte auch dazu führen, dass unrealistische Erwartungen gestellt wurden. Und das Selbstbewusstsein der Beschäftigten musste noch nicht zwangsläufig dazu führen, dass die Arbeit lief. Aber eine solche Gesellschaft, in der sich die arbeitenden Menschen nach ihren Fähigkeiten einbringen, in der sie ihre Fähigkeiten jeden Tag weiterentwickeln, die kann auch in der Wirtschaft Erfolge erzielen, an die im Kapitalismus nicht zu denken ist. 1967 gab die Wochenzeitung Die Zeit einem Artikel über die DDR die Überschrift: „Wirtschaftswunder auf sozialistisch“. Solche Erfolge stellen sich nicht von selbst ein, auch sie hängen eben von den arbeitenden Menschen ab. Aber wer im Sozialismus nur eine Servicewüste sieht, der wird kaum verstehen, was die DDR für ihre Bürgerinnen und Bürger bedeutet hat.
Olaf, Frankfurt
Dem ist nicht zu helfen
Robert Iswall, Hauptfigur im Roman „Die Aula“ von Hermann Kant, soll eine Rede vor ehemaligen Studierenden der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät halten. Dabei macht er deutlich, was die DDR für den Einzelnen bedeutete.
„Steh auf, sag deinen Namen und sag deinen Beruf, den von damals und den von heute, und dann setz dich wieder, denn das ist alles. Alles, was wir brauchen, sind Tatsachen. Und nun steht auf, ihr Tatsachen, und laßt euch sehen! Irmgard Strauch, Verkäuferin – Studienrätin; Joachim Trimborn, Fischer – Chemiker; Rose Paal, Landarbeiterin – Sinologin; Vera Bilfert, Schneiderin – Augenärztin. Der nächste: Landarbeiter, Chirurg, Dr. med. habil., Verdienter Arzt des Volkes; Waldarbeiter – Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Land- und Forstwesen, Diplom-Forstwirt. Die anderen brauchen nicht mehr aufzustehen, immer das gleiche: Ziegeleiarbeiter – Cheftechnologe; Färberin – Staatsanwältin, ein Spezialist für Oberflächenhärtung, der Maurer war, ein Radiologe, der Steinsetzer gelernt hat, und so fort, immer das gleiche, ist ja langweilig. Wer jetzt noch nicht ahnt, was dies hier für ein Haufen ist, wer jetzt noch nicht sieht, was das war, ABF, wer jetzt noch nicht weiß, was das ist, DDR, der kann einem nur leid tun, dem ist nicht zu helfen“.
Eins überbraten
Erika Baum (89) über das Selbstbewusstsein der Menschen in der DDR
„Das Leben im Sozialismus hat die Menschen in bestimmten Bereichen selbstbewusster gemacht – das ist besonders bei Frauen zu beobachten, auch in der Partnerschaft. Wobei ich sagen muss, dass in den letzten zwanzig Jahren viel verloren gegangen ist. Die Bedingungen ihres Lebens haben sie selbstbewusst gemacht, weil sie nicht unterdrückt waren, weil sie den Vorgesetzten eins überbraten konnten, keine Angst um den Arbeitsplatz hatten.“
Nachgefragt: Hat sich gelohnt. In der DDR gab es Bildung und soziale Sicherheit für alle – und noch mehr.
Die DDR war mehr als Mauer und Stasi – zum Beispiel niedrige Mieten und Unterstützung für Revolutionäre aus anderen Ländern. Zum Beispiel gute Schulen und Einsatz für den Frieden. Und so weiter.
„Die drüben waren weiter zurück.“
In ihrem Buch „Die DDR und ihre Töchter“ beschreibt die Journalistin Claudia Wangerin (38), wie es um die Gleichberechtigung der Frau in der DDR stand.
„In der DDR waren viele Probleme gesamtgesellschaftlich gelöst oder zumindest angegangen worden, für die westdeutsche Frauen individuelle Lösungen finden mussten. Dort galt nicht die Quote, sondern die gesicherte Kinderbetreuung als entscheidend, um die Benachteiligung von Frauen im Arbeitsleben zu verhindern. ‚Die Westfrauen waren der Meinung, sie müssten uns armen Ostfrauen erklären, wie es richtig laufen sollte. Die wollten uns dabei helfen, unsere Freiheit durchzusetzen’, so die Schauspielerin Walfriede Schmitt. ‚Nur leider waren die drüben viel weiter zurück als wir. Selbst die Abtreibung war im Westen ja noch halbwegs illegal.’ Für die Frauen in der DDR war vieles selbstverständlicher. Vor allem das eigene Arbeitseinkommen – und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Während der Arbeit an diesem Buch und in den Gesprächen mit Frauen, die einen Teil ihres Lebens in der DDR verbracht haben, ist mir wieder einmal klar geworden, wie sehr heute Existenzangst die Lebensgestaltung beeinflusst – gerade die von Frauen. Denn es gab da mal ein Land, in dem das nicht so war.“
“Elitenwechsel” & “soziale Nähe”
Auch ein Historiker des akademischen Mainstreams kommt an den sozialen Errungenschaften der DDR nicht ganz vorbei.
„Während gesellschaftliche Führungsgruppen verdrängt und entmachtet wurden, förderte die SED-Führung vor allem die Nachkommen bislang marginalisierter Schichten […] Das Konzept sozialer Egalisierung schloss einen umfassenden Elitenwechsel ein […] Der Herausbildung der neuen ‚sozialistischen’ Gesellschaft dienten vor allem sozialpolitische Maßnahmen, mit denen das SED-Regime ihre Trägerschichten gezielt begünstigte. […] Die Alters- und Gesundheitsversorgung der ‚Werktätigen’ [nahm] einen hohen Stellenwert ein. […] Wichtige sozialpolitische Leistungen vergaben in der DDR Betriebe […] In den späten vierziger Jahren wurden zumindest in den großen staatlichen Betrieben […] Werkküchen, Kindertagesstätten, Nähstuben, Reparaturwerkstätten und Ambulatorien eingerichtet, um durch Leistungsanreize die Arbeitsproduktivität der Beschäftigten zu erhöhen. […] Im Rahmen der 1976 proklamierten ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik’ wurde darüber hinaus die Grundversorgung subventioniert, so dass die Preise für Produkte wie Brot und Wohnraum niedrig blieben. […] [D]as Ausmaß der sozialen Ungleichheit [blieb] im Vergleich zu westlichen Staaten mit repräsentativen politischen Ordnungen und kapitalistischen Marktwirtschaften begrenzt. […] Auch wegen der geringen Distanz zwischen den Erwerbstätigen und ihren unmittelbaren Vorgesetzten, der schwach ausgeprägten Leistungsdifferenzierung und der fehlenden Konkurrenz um Arbeitsplätze in einer Gesellschaft mit Vollbeschäftigung vermittelten Betriebe ihren Belegschaften den – weithin geschätzten – Eindruck sozialer Nähe.“
Auszüge aus: Arnd Bauerkämper: Die Sozialgeschichte der DDR (=Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 76), München: Oldenbourg, 2005.
„Für uns war Deutschland nicht gespalten“
Robert Steigerwald (89) saß als Kommunist in der Bundesrepublik im Gefängnis – dann ging er in die DDR.
„Ich hatte schon 1950 acht Monate in U-Haft gesessen, weil ich an der Volksbefragung zur Wiederbewaffnung der BRD mitgearbeitet hatte. Dann, im September 1955, bin ich wieder verhaftet worden, das war noch vor dem Verbot der KPD. Der Vorwurf war Staatsgefährdung. Insgesamt habe ich im Adenauer-Deutschland fünf Jahre im Knast gesessen. Als ich wieder draußen war, wurde ich ins ZK der illegalen KPD gewählt, und die Partei holte mich in die DDR, damit ich nicht noch mal brummen musste. Dann habe ich meine Arbeit von dort gemacht, ich war im ZK verantwortlich für Theorie und Bildung. Wir haben von dort aus den Freiheitssender 904 gemacht, wir hatten ein illegales theoretisches Organ, ich selbst bin auch jedes Jahr mehrere Wochen von Berlin aus in die Bundesrepublik gefahren, um dort zu arbeiten. Wir haben immer für die Einheit Deutschlands gekämpft, für uns war Deutschland nicht gespalten. Das war staatsgefährdend, weil es gegen diese Bundesrepublik gerichtet war. Aber auch nach dem Verbot unserer Partei war für uns die DDR trotzdem die Fortsetzung eines einheitlichen Deutschlands. Die DDR war unser Staat, wir fühlten uns dort mehr zu Hause als in der BRD.“
Spion für den Frieden
Dieter Feuerstein (59) hat seit 1972 als Spion für die HVA, den Auslandsgeheimdienst der DDR, gearbeitet. 1990 wurde er verhaftet und saß vier Jahre im Gefängnis.
„Seit 1984 arbeitete ich als Ingenieur bei der Firma Messerschmitt-Bölkow-Blohm bei München in der Abteilung ‚Luftangriffssysteme’. Dort wurden unter anderem Kampfflugzeuge entwickelt und verbessert wie der Tornado – ein ausgesprochenes Angriffssystem. Ich hätte auch in das Unternehmen gehen können, das den Eurofighter, der in erster Linie zur Luftverteidigung vorgesehen war, entwickelte. Wo ich eingesetzt werden sollte, entschied die Leitung der HVA also nach militärpolitischen Überlegungen. Die Hauptgefahr für die DDR und die mit ihr verbündeten Staaten des Warschauer Vertrags ging von der gegnerischen Angriffstechnologie aus. Die zielgerichtet betriebene Aufklärung gegnerischer Luftverteidigungssysteme hätte nur dann Sinn gemacht, wenn die Option eines Angriffs gegen westliche Staaten auch nur ansatzweise bestanden hätte. Da dies aber weder bei der DDR noch bei der Sowjetunion der Fall war, ergab sich die Entscheidung folgerichtig und logisch. Immer wieder werde ich, im Hinblick auf meine nachrichtendienstliche Arbeit, gefragt: ‚Hat es sich denn wenigstens gelohnt?’ Meine Antwort: ‚Ja – ein halbes Jahrhundert Frieden in Europa, das hat sich schon gelohnt.’“
Keine Nazilehrer mehr
Erika Baum (89) war schon vor der Gründung der DDR im neuen Bildungssystem tätig.
„Das Bildungswesen in der DDR war so, dass die Allgemeinheit der Schüler gebildeter war als sie das heute ist. Übrigens, unsere Lehrer waren auch besser. Aber nach 89 ist bei uns ein großer Teil der Lehrer rausgeflogen, weil diese Schule sie nicht mehr haben wollte. Die hatten Berufsverbot. Ich habe 1945 in Berlin begonnen, als Schulhelfer zu arbeiten. Nach dem Potsdamer Abkommen war es verboten, dass Nazilehrer unterrichten, und man musste aber trotzdem die Schule aufmachen. Da wurden Leute gesucht, und die ersten waren die Schulhelfer. Wir sind also vormittags in die Klasse gegangen und hatten nachmittags Fortbildung. Danach gab es die Neulehrer, die hatten eine kurze Ausbildung und später gab es dann auch die sehr guten Pädagogen, die in der DDR ausgebildet wurden. Wir haben auch den Unterrichtstag in der Produktion umgesetzt. Es gehörte zum Lehrplan, dass Schüler nicht Laubsägearbeiten oder Stricken lernen, sondern dass sie in Produktionsbetrieben bestimmte Einsichten gewonnen habe. Das gibt es heute nicht mehr. Die Konterrevolution hat sich also auch ungeheuer ausgewirkt auf die Breite der Bildung.“
Theorie: Keine Marionetten. Für Joachim Gauck gibt es keine Freiheit im Kommunismus. Waren die Menschen in der DDR nur Marionetten des Politbüros?
Der Sozialismus braucht das Engagement und die Kreativität des Einzelnen – sonst funktioniert er nicht.
Sein Thema ist die Freiheit. Er ist ein Prediger für so genannte Demokratie und für angeblich soziale Marktwirtschaft: Joachim Gauck, Bundespräsident, früherer DDR-Oppostioneller. Für ihn ist klar, dass es Freiheit im Sozialismus nicht gibt: Das „Grundgefühl, das mich und den größten Teil meiner Landsleute bis 1989 begleitete (war) das Gefühl der Ohnmacht.“ Es scheint klar zu sein: Freiheit und Sozialismus passen nicht zusammen. Wir bekommen erzählt, dass der Einzelne in den kommunistischen Ländern nichts galt, dass über allem ein übermächtiger Apparat von grauen Politfunktionären stand, dass die Menschen in der DDR nur Marionetten der SED-Führung waren.
In gewisser Weise ist das natürlich richtig. Der Kapitalismus gibt uns alle Freiheiten, die wir uns nur vorstellen können: Niemand darf mir vorschreiben, ob ich die U-Bahn nehme oder mir einen Mercedes kaufe. Ich darf arbeiten gehen, aber kein Gesetz und keine Behörde zwingen mich dazu (es sei denn, natürlich, ich will ein bisschen Geld zum Leben haben). Ich darf auch reich werden und Herr über ein riesiges Unternehmen werden. Juristisch gesehen sind wir ganz und gar frei – ob ich auch das Geld habe, um diese Freiheit auszunutzen, interessiert weder die Chefs der großen Banken noch Joachim Gauck. Denn das ist Privatsache, da mischt sich keiner ein.
Diese Freiheiten gibt es im Sozialismus tatsächlich in dieser Form nicht. Die Freiheit, andere Menschen als Arbeitskräfte auszubeuten, wird beseitigt. Die Freiheit, dass eine kleine Klasse von Konzernherren, Managern, Superreichen und Spitzenpolitikern im Alleingang über das wichtigste jeder Gesellschaft, über die Wirtschaft, entscheidet, wird abgeschafft. Und in der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass die Herren des Kapitalismus und ihre Anhänger die Freiheiten des Ellenbogens und des Profits, die Freiheit der Ausbeutung, die ihre Existenzgrundlage ist, mit allen Mitteln verteidigen. Terror und Bürgerkrieg, Sabotage und Putsch gehören dazu. Die sozialistische Gesellschaft ist daher gezwungen, auch eine andere Freiheit einzuschränken: Die Freiheit, den Kapitalismus zu erneuern, die Errungenschaften der Gesellschaft wieder zur Privatsache einiger weniger zu machen. Dazu waren immer auch Repressionen nötig, und das wird in Zukunft nicht anders sein.
Aber wo verläuft die Grenze zwischen Angriffen auf den Sozialismus und ganz normaler Kritik? Wo verläuft die Grenze zwischen der Erneuerung des Kapitalismus und dem Streben nach Veränderungen innerhalb des Sozialismus? Diese Grenze ist nicht immer eindeutig. Aber wo sie falsch bestimmt wird – und das ist in der Geschichte der sozialistischen Länder oft vorgekommen – kommt es dazu, dass sich der Sozialismus nicht entfalten kann, weil seine Gegner ungehindert bleiben. Oder es kommt zu ungerechtfertigten Repressionen, es werden Menschen vor den Kopf gestoßen, wird ihnen vielleicht sogar das Leben im Sozialismus unerträglich gemacht.
Das ist natürlich ein moralisches Problem. Die Kommunisten kämpfen für eine klassenlose Gesellschaft, ohne Ausbeutung und Privilegien, eine Gesellschaft der Gleichberechtigung und der Solidarität. Von ihnen muss man auch erwarten, dass sie solche Fehler bekämpfen und verhindern. Aber es ist nicht nur ein moralisches Problem, es ist ein Problem, das die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft betrifft.
Denn Sozialismus, das bedeutet: Gemeinsame Produktion für die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Wenn die Planwirtschaft nur daraus besteht, dass eine große Bürokratie alle Entscheidungen im Alleingang trifft, funktioniert sie schlecht. Erst wenn in den Plan die Vorschläge und die Kritik der Arbeiter und Angestellten, der Techniker, der Betriebsleiter und der Wissenschaftler einfließen, kann er die Wirtschaft voran bringen. Und dasselbe gilt für alle Bereiche: Der sozialistische Staat und die sozialistische Gesellschaft sind darauf angewiesen, dass sich die Masse der Menschen aktiv einbringen, dass sie dazulernen und Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne beschreiben Marx und Engels die kommunistische Gesellschaft: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Das Bildungswesen der DDR, die Möglichkeiten zur Qualifizierung und Weiterbildung, die ständige Aufforderung, Verantwortung für den Sozialismus zu übernehmen – all das zeigt, dass das nicht nur eine utopische Illusion ist, dass es dazu wirkliche Ansätze gab.
Dieses neue Bewusstsein und diese neuen Verhältnisse der Menschen untereinander können sich aber nur in einem langen Prozess mit Rückschlägen und Schwierigkeiten durchsetzen – auch dafür liefert die Geschichte der DDR genügend Beispiele. Denn die Gewohnheiten und Lebenseinstellungen des Kapitalismus lassen sich nicht in wenigen Jahren beseitigen. Eine neue Gesellschaft fällt nicht vom Himmel, sie geht aus der alten hervor. Zur klassenlosen Gesellschaft führt kein großer Sprung, sondern ein langer Weg des sozialistischen Aufbaus. Aber in diesem Aufbau setzt sich nach und nach eine höhere Form von Freiheit durch als die, die wir heute erleben: Eine Gesellschaft, in der die Menschen solidarisch zusammenleben und -arbeiten, in der sie über alle Fragen – auch die Fragen der Wirtschaft – demokratisch entscheiden, in der jeder und jede sich nach ihren Vorlieben und Möglichkeiten entwickeln und seinen oder ihren Platz in der Gesellschaft finden kann. Aber in einem behalten die Gegner des Sozialismus doch recht: Mit der Freiheit des Ellenbogens und der Ausbeutung, mit der Freiheit, auf Kosten anderer zu leben, hat das wenig zu tun.
Olaf, Frankfurt
Tipps zum Weiterlesen
Romane
Hermann Kant: Die Aula
verschiedene Ausgaben
Da sitzt einer an seiner Schreibmaschine und soll eine Rede schreiben. Eine Rede zum letzten Abschlusssemester der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, kurz ABF, die er selbst besucht hat. Und da erinnert er sich. Erinnert sich zurück daran, wie das war, als die DDR mit einem großangelegten Bildungsprogramm Jugendlichen aus der Arbeiterklasse ermöglichte, „die Gipfel der Wissenschaft zu stürmen“. Und nebenbei erfährt man noch so einiges andere über das Leben in diesem Staat, in dem das Lernen groß geschrieben wurde.
Erik Neutsch: Spur der Steine
verschiedene Ausgaben
Die Planwirtschaft bringt ihre eigenen Widersprüche und Probleme mit sich. In seinem zuerst 1964 erschienen Roman gestaltet Neutsch diese Widersprüche – aber auch den Kampf um ihre Lösung. Chaos auf der Baustelle, unsinnige Vorgaben des Ministeriums und karrieristische Betriebsleiter sind Thema – und, wie Parteifunktionäre, Ingenieure und Zimmerleute in der Auseinandersetzung mit diesen Schwierigkeiten ihren Platz in der sozialistischen Gesellschaft suchen.
Anna Seghers: Die Entscheidung / dieselbe: Das Vertrauen
verschiedene Ausgaben
In diesen groß angelegten Romanen setzt Anna Seghers die Handlung aus „Die Toten bleiben jung“ fort. Sie beschreibt die Entscheidung, vor der Deutschland und jeder in diesem Land nach der Befreiung vom Faschismus stand, und sie beschreibt das Vertrauen der Partei in die Arbeiterklasse und der Arbeiterklasse in die Partei – aber auch, was geschieht, wenn dieses Vertrauen gestört wird.
Klassiker
Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms
in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz Verlag, 1974
In dieser 1875 verfassten Kritik am Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands legt Marx unter anderem seine Erkenntnisse über die Organisation einer kommunistischen Gesellschaft und die Unterscheidung ihrer beiden Stufen, der niederen und höheren, später einfach Sozialismus und Kommunismus genannt, dar. Wie kommt man zur klassenlosen Gesellschaft? Und welche Rolle spielt dabei der Staat? Diesen Fragen geht Marx nach.
Wladimir Iljitsch Lenin: Die große Initiative
in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. V. , Berlin: Dietz Verlag, 1972
1919, mitten im Bürgerkrieg, den die junge Sowjetmacht gegen in- und ausländische Gegner führen musste, begannen einige Arbeiter, freiwillig auch am Samstag zu arbeiten, um zum Sieg gegen die alten Kräfte beizutragen. In diesen „Subbotniks“ sieht Lenin „Keimzellen der neuen, der sozialistischen Gesellschaft“ – denn hier haben Arbeiter begonnen, mit Disziplin, Anstrengung und Organisation die Wirtschaft selbst voranzubringen. Mit dieser kurzen Schrift will Lenin zeigen: Dort beginnt der Kommunismus.
Der Ausverkauf
Friedliche Revolution, Wende, Wiedervereinigung. Die offizielle Geschichtsschreibung hat viele Namen für das Ende der DDR und das deutsche Kapital hatte ebenso viele Gründe zum Feiern als Schluss war mit dem Sozialismus auf deutschem Boden. Für die Menschen, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben, stellte sich allerdings bald heraus, dass es keinen Grund zum Feiern gegeben hat. Was ist 1989/90 passiert? Mehr dazu auf den Seiten 24 bis 29.
Einleitung: Verkohlt. Bundeskanzler Kohl versprach blühende Landschaften für den Osten. Unsere Autorin kann sich immer noch darüber aufregen.
Als 1990 die sogenannte „Deutsche Einheit“ beschlossen wurde hatte dies weitreichende Folgen für die knapp 17 Millionen Einwohner der DDR. Fabriken, die früher kollektives Eigentum waren, wurden den „Besitzern“ zurückgegeben. Viele Fabriken schlossen daraufhin ihre Tore, die Menschen standen plötzlich ohne Job und Zukunftsperspektiven auf der Straße. Die 100 DM „Begrüßungsgeld“ waren schnell weg, der Lebensstandard sank. Kunst und Kultur waren zu teuer, Menschen blieben den Kulturhäusern fern.
Helmut Kohl versprach den Menschen im Osten „blühende Landschaften“. Was sie bekamen war der Ausverkauf ihrer Industrie, ihres Landes und ein dadurch immer schneller ansteigendes Heer von Arbeitslosen. Auch wenn die wirtschaftliche Lage der DDR nicht die beste war, die Entlassungen und der rapide Abbau der industriellen Produktion waren das Ergebnis einer Konterrevolution, von der das westdeutsche Kapital profitierte.
Doch auch für die alten Bundesländer stellte die Annexion einen herben Rückschlag dar. Verbesserungen, die die Arbeiter und ihre Gewerkschaften in den 80er Jahren erkämpft hatten, waren nur möglich, weil es die DDR gab. In Tarifkämpfen saß die DDR immer als „dritter Tarifpartner“ mit Beispielfunktion für soziale Rechte mit am Tisch. Ob im Bildungssektor, im Gesundheitswesen oder bei den niedrigen Arbeitslosenzahlen. Der Druck, der über die bloße Existenz der DDR auf die politischen und wirtschaftlichen Ebenen in Westdeutschland ausgeübt werden konnte, war groß. Mit dem Wegfall der Deutschen Demokratischen Republik war das vorbei und das deutsche Kapital auf dem Vormarsch. Rohstoffe, Fabriken und Arbeitskräfte waren in Ostdeutschland billiger und leichter zu haben.
Auch wenn die „Wiedervereinigung“ in den Medien als Ergebnis einer Massenbewegung im Osten dargestellt wird, wird dabei ein anderer Teil der Wahrheit verschwiegen. So demonstrierten im Mai 1990 in Frankfurt am Main 20.000 Menschen gegen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Sie forderten den Erhalt der DDR als eigenständigen Staat und zugleich bestimmte Reformen wie die Aufhebung der Einschränkung der Reisefreiheit. Ob die geforderten Verbesserungen der Wendepunkt für die DDR gewesen wären, können wir heute nicht beurteilen.
Diana, Essen
Nachgefragt: Ist das die Freiheit? Geschenke für‘s Kapital und Entlassungen ganzer Belegschaften
Jedes Jahr am 3. Oktober wird die deutsche Einheit offiziell gefeiert. Wer hat Grund, diese „Wiedervereinigung“ zu bejubeln? Wer hat durch den Untergang der DDR profitiert, wer hat verloren?
Sozial-Schnickschnack
In der Thüringer Stadt Gera gab es zu DDR-Zeiten 43 Bibliotheken. Heute sind es noch zwei. Der Sozialkahlschlag, den die „Wende“ auslöste, erfasste alle Bereiche: Sparen an Kultur und Jugendeinrichtungen. Schließung von Kindertagesstätten und Schulen. Viele Kommunen sind pleite, selbst der öffentliche Nahverkehr schränkt sein Angebot immer weiter ein. In der DDR hatten die Betriebe auch eine wichtige Funktion für die soziale Versorgung der Beschäftigten. Nachdem diese Betriebe nach der Treuhand-Devise „Privatisieren statt Sanieren“ an private Unternehmer verschleudert wurden, war damit Schluss – denn warum sollte ein Kapitalist Geld für Sozialleistungen ausgeben, wenn er nicht gezwungen wird? Der Geograph Thomas Ott zieht Bilanz: „Insbesondere durch den Rückzug der Betriebe aus bislang von ihnen finanzierten und / oder materiell unterstützten Einrichtungen im Kultur-, Sport- und Freizeitbereich entstanden in einer Übergangsphase empfindliche Angebotslücken, die erst allmählich […] geschlossen werden konnten […]. Als Fazit lässt sich festhalten, daß sich die Zahl der Kultur- und Kindereinrichtungen gegenüber der Vorwendezeit verringert hat.“
Thomas Ott: Erfurt im Transformationsprozeß der Städte in den neuen Ländern. Ein regulationstheoretischer Ansatz, Erfurt 1997.
Nicht der Richtige
Dr. Adolf Eser war von 1984 bis April 1990 Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld, eines der bedeutendsten Chemiestandorte der DDR.
„Nach dem Krieg, den ich als Kind erleben musste, und einer Ausbildung, in der ich auf Antifaschisten traf, die uns Lehrlinge im Sinne von ‚Nie wieder Krieg!‘ erzogen, bin ich auf die ABF gegangen und habe dann ein Studium in Verfahrenstechnik absolviert. Die Möglichkeit des Aufstiegs in verantwortliche Positionen der Wirtschaft gab es prinzipiell für alle jungen Leute, die sich qualifiziert und für ihren Staat engagiert hatten. Das Kombinat war bis zuletzt leistungsfähig und die Produktionskapazitäten ständig ausgelastet. 1990, kurz vor der Umwandlung des Kombinats in eine Aktiengesellschaft, wurde mir auf einer Sitzung der Kombinatsleitung, die die Verfasser eines Misstrauensvotums gegen mich einberufen hatten, mitgeteilt, dass ‚wenn ich der Rücktrittsforderung nicht nachkäme‘, man mich fertigmachen werde, dass ‚kein Hund ein Stück Brot mehr von mir nähme‘. Im Nachhinein bin ich froh, keine Verantwortung dafür zu haben, dass Tausende meiner Kollegen ihren Arbeitsplatz verloren haben und manche in bittere Armut geraten sind, wie es nach der Privatisierung geschehen ist. Dafür wäre ich nicht der Richtige gewesen.“
Da gab‘s nicht mehr Viel
Toni (32) hat seine Jugend in den Neunzigern in Brandenburg verbracht.
„Ich bin in Neuruppin groß geworden. Zum Ende der DDR war ich 8 Jahre alt, meine Jugend habe ich also in der BRD verbracht, die Kindheit in der DDR. Die zwei großen Fabriken in Neuruppin wurden ziemlich bald nach 1990 dicht gemacht. Meine Eltern haben beide erstmal ihre Jobs verloren. Ich hab’ sogar im Kinderhort gemerkt, dass sich was geändert hat, da gab‘s dann keine Milch mehr und das Mittagessen war nicht mehr gratis. Für Jugendliche gab‘s in den Neunzigern auch nicht mehr viel, nur ein Freizeitzentrum, das war das einzige, was in Neuruppin ging. Die meiste Zeit haben wir aber am Busbahnhof rumgehangen und Zeit totgeschlagen, da gab es oft Stress mit Nazis. Man wusste, dass man abends um bestimmte Plätze einen Bogen machen musste, wenn man keinen Ärger wollte. Damals konnte man aber wenigstens noch relativ schnell nach Berlin kommen oder im See baden. Das ist heute beides nicht mehr so einfach, weil der Regionalverkehr total zusammengestaucht wurde und die Grundstücke rund um den See privatisiert und eingezäunt. Von meinen Schulfreunden sind eigentlich alle von hier weg, bis auf ein paar, die von den Eltern den Betrieb übernehmen konnten.“
Kaum noch Zeit, um sich zu bilden
Ralfs Vater hatte in der DDR mehr Zeit für sich und seine Familie.
„Mein Vater hat sich nach der Wende selbstständig gemacht. Er ist Maschinenschlosser, und als die Massenentlassungen hatte er Angst um seinen Job. Da hat er mit ein paar Kollegen eine kleine Firma gegründet. Früher hatte er feste Arbeitszeiten, jeden Tag von früh um sieben bis vier Uhr nachmittags. In seiner Freizeit konnte er Fußball spielen, er konnte sich auch mehr an der Kindererziehung beteiligen. Und er konnte sich bilden, er hat viele Bücher gelesen. Er hat sich zum Beispiel immer sehr für Cuba und für Che Guevara interessiert, oder auch für den spanischen Bürgerkrieg. Heute arbeitet er jeden Tag von früh um sechs bis abends um sechs, da hat er für so etwas kaum noch Zeit. Und er ist seit zwanzig Jahre jede Woche weg, auf Montage. Deshalb hat meine Mutter meinen Bruder und mich auch fast alleine großgezogen. In der DDR war mein Vater natürlich auch auf Montage, aber da konnte er trotzdem fast jeden Tag nach Hause kommen. Dieser ganze Druck und die Angst um den Arbeitsplatz, das war in der DDR anders.“
Aus: Position Nr. 4/2010.
Goldrausch für Kriminelle
Ein Freund des Sozialismus ist der Journalist Dirk Laabs nicht. Umso interessanter ist, was er über den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand zu sagen hat.
„Die Treuhand wurde ganz bewusst nicht demokratisch kontrolliert. […] Von 1990 an wurde das eingeübt, was alle Deutschen dann in der Finanzkrise ab 2008 wieder erlebten: die Sozialisierung der Verluste; die Ausschaltung des Parlaments, eine Exekutive, die nicht erklären kann oder will, warum sie wirtschaftspolitisch wie handelt. Bis heute nehmen sich das Bundesfinanzministerium und die Nachfolgeeinrichtung der Treuhand heraus zu bestimmen, was die Deutschen, die Bürger, die Wähler über die Treuhand wissen dürfen – und was nicht. Unter anderem wird versucht, mit Verweis auf das Aktien- und Steuerrecht zu rechtfertigen, dass die Arbeit der Anstalt nicht transparent und durchschaubar sein kann und darf. […] Viele Treuhänder finden es ungerecht, dass ihre Arbeit auf spektakuläre Kriminalfälle reduziert wird. Tatsächlich haben die Bundesregierung und die meisten Landesregierungen nach der Wende die Wirtschaftskriminalität als unvermeidlichen Faktor einkalkuliert nach dem Motto: ‚Schwund ist immer.‘ […] Sie haben zugelassen, dass Fälle verjährten oder es erst sehr spät zu Gerichtsverhandlungen kam, in denen man sich aus Zeitnot nur mit einem Teil der Tat befasste.“
Quelle: Dirk Laabs: Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand. München: Pantheon Verlag, 2012.
Theorie: „Nicht schämen“ – Patrik Köbele über die Gründe für das Ende der DDR – und was es daraus zu lernen gibt.
Wir brauchen uns nicht für den Sozialismus zu schämen – aber wir müssen aus den Leistungen und aus den Fehlern der DDR lernen. Von Patrik Köbele
Gleich zu Beginn: Eine eindeutige Antwort auf Frage, woran die DDR gescheitert ist, kann hier nicht gegeben werden. Ein Artikel in einer Broschüre reicht natürlich nicht aus, um die Zerschlagung des Sozialismus in Europa, den Untergang der DDR zu erklären. Dass sie aber erklärt werden muss, wenn über einen neuen Anlauf zum Sozialismus nachgedacht werden soll, ist ebenfalls klar. Eine umfassende Analyse des Scheiterns der sozialistischen Staaten ist also unabdingbar. Folgende Denkanstöße müssen meines Erachtens nach dabei eine Rolle spielen:
1
Es ist müßig, über die Angriffe des Imperialismus auf den Sozialismus zu trauern, vom Imperialismus etwas anderes zu erwarten ist Illusion und die ist für Revolutionäre nicht hilfreich. Also: Ja, am Ende war der Sozialismus zu schwach, sonst wäre er nicht untergegangen. Da die DDR sich aber nicht isoliert betrachten lässt, sondern im Kontext des Sozialismus in Europa insgesamt untersucht werden muss, lässt sich ihr Ende auch nicht von der Zerschlagung der UdSSR und der sozialistischen Staaten in Europa lösen.
2
Dieser, am Ende zu schwache Sozialismus, hat einiges erreicht: Der Imperialismus wurde in manchen Phasen zum Frieden gezwungen. Kolonial und neokolonial unterdrückte Länder konnten sich national befreien. Der Arbeiterklasse im Westen wurden viele Zugeständnisse gemacht. In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit, Bildung war kein Privileg mehr, Antifaschismus Prinzip. Seit dem Ende des Sozialismus erleben wir bitter, was ein Sozialismus, der am Ende zu schwach war, schon erreicht hat – ein Grund mehr, für einen starken Sozialismus zu kämpfen.
3
Die Ursachen der Schwäche? Es ist ein Bündel, sie haben historische Ursachen und konkrete Ausprägungen. Es gibt aber zwei historische Unsinnigkeiten, die wir uns nicht erlauben sollten: Erstens, die über 70 Jahre Existenz der Sowjetunion und 40 Jahre der DDR beweisen, wie richtig und legitim die Entscheidung für den Sozialismus in der DDR waren. Sie beweisen aber auch, dass der Sozialismus sich in harten Kämpfen durchsetzen muss. Zweitens: Das Scheitern auf eine Periode oder gar eine Person und deren Verbrechen, Deformationen und Handeln zurückzuführen, hat mit dialektisch-materialistischer Geschichtsbetrachtung nichts zu tun. Alle Perioden müssen auf Stärken und Schwächen und auch auf Fehler untersucht werden.
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Der reale Sozialismus hatte eine äußerst schwierige Ausgangssituation, neue Produktionsverhältnisse zu entwickeln und mit der permanenten Entwicklung der Produktionsmittel mitzuhalten, deren Entwicklung in den Kernländern des Imperialismus oft schneller fortschritt, auch weil diese als „Kraftquell“ immer z.B. über die Extraprofite der neokolonialen Ausbeutung verfügten. Es gab zwei zusätzliche Problemstellungen, die phasenweise mehr oder weniger erkannt, aber letztlich nie vollständig gelöst wurden. Erstens war die Arbeiterklasse in der Sowjetunion zunächst relativ klein, die Masse der Bevölkerung bestand aus Bauern – und das hieß eben auch, dass es nur wenige klassenbewusste, erfahrene und gebildete Arbeiter gab, die die Diktatur des Proletariats an Ort und Stelle verkörpern konnten. Das führte auch dazu, dass zunächst sehr viele Entscheidungen in der Partei zentralisiert wurden. Zweitens war der Sozialismus über lange Zeit gezwungen, mit massiven Mitteln die Grundstoffindustrie zu entwickeln um mit der Entwicklung des Kapitalismus mithalten zu können. Wahrscheinlich wäre dies sogar länger notwendig gewesen. Dazu wäre es aber auch nötig gewesen, dass die Masse der Menschen diese Politik mitträgt, dass der Sozialismus ein neues System der Bedürfnisse, Lebenserwartungen, kurz eine neue Weltanschauung entwickelt. Allerdings wurde „die Konkurrenz zwischen den Gesellschaftssystemen nicht mehr als Konkurrenz um Lebensziele, sondern um Konsumstandards geführt“, schreibt der kommunistische Philosoph Hans Heinz Holz in seinem Buch „Niederlage und Zukunft des Sozialismus“. Im Endeffekt führte dies dazu, dass der Sozialismus neue Produktionsverhältnisse entwickelte, aber die entscheidende Produktivkraft, der Mensch, am Ende in großen Teilen von der „Fahne“ ging.
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Dabei war auch das Bürokratie-Problem „schuld“. Ein sozialistischer Aufbau, ein sozialistischer Staat kommt ohne eine Bürokratie nicht aus. Es gibt die Notwendigkeit eines Staatsapparats, einer Ökonomie und einer Parteistruktur. Sinnig ist, dass sie sich gegenseitig kontrollieren, Auswüchse verhindern. Notwendig ist, dass sie permanent daran arbeiten, die Massen und vor allem die Arbeiterklasse und ihre Kreativität einzubeziehen. Das Räte-Konzept war ein solches Konzept, aber zum Beispiel auch die Mitbestimmung über die Massenorganisationen in der DDR. Aber sowohl die Unreife der Rahmenbedingungen wie auch schwerwiegende politische Fehler sorgten dafür, dass die sozialistische Demokratie oft nur noch einen rein formalen Charakter annahm.
6
All das führte zu einer Verarmung der Theorie. Es wurde zu wenig unterschieden zwischen dem Widerspruch zum Gegner und den Widersprüchen, die die eigene, neue Gesellschaft hervorbrachte. Gleichzeitig wurde aus der richtigen Einschätzung, dass die Erhaltung des Friedens die zentrale Voraussetzung für den Erhalt der Menschheit und des Sozialismus ist, die richtige Schlussfolgerung gezogen auf internationale Bündnispolitik zu orientieren. Um solche Bündnisse zu erleichtern und zu verbreitern wurde allerdings auch von eigenen Positionen Abstand genommen und versucht, sich mit opportunistischen Anschauungen zu arrangieren. Diese Verarmung der Theorie führte aber wiederum dazu, dass die kommunistische Partei faktisch ihre Avantgarderolle verlor.
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In der damaligen DDR gab es eine große Unzufriedenheit der Massen, die aber anfangs Veränderungen innerhalb des Sozialismus einforderten („Wir sind das Volk“), dies wurde umgekehrt zu einer Stimmung des Anschlusses an die kapitalistische BRD („Wir sind ein Volk“, „Kommt die DM nicht zu uns, gehen wir zu ihr“). Ein entscheidender Einschnitt war eine gewisse Panik hinsichtlich der ökonomischen Situation der DDR, die sich auch in der Partei- und Staatsführung entwickelte. Allerdings ist festzuhalten: Trotz ökonomischer Probleme war die DDR (zumal wenn man ihren Schuldenstand an heutigen Staatsverschuldungen misst) nicht pleite!
8
Das Hauptproblem in der damaligen Situation, unabhängig davon, dass die DDR durch die Entwicklung in der Sowjetunion wohl nicht zu halten gewesen wäre, scheint mir, dass dann eine Kopflosigkeit begann, die auch dem geschuldet war, dass große Teile der SED (auch der Führung) dann nach Strohhalmen griffen, die sich schnell als konterrevolutionär entpuppten. Die Partei wurde von den Massen und der Klasse nicht mehr als Avantgarde gesehen und sie wollte es in weiten Teilen auch nicht mehr sein. Waren dem Kapitalismus ideologisch schon viele Tore aufgemacht, so wurden sie dann auch ökonomisch und militärisch geöffnet.
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Angesichts der Realität des Kapitalismus haben wir uns des Sozialismus mit seiner ganzen Geschichte nicht zu schämen. Das betrifft unser Verhältnis zum Klassengegner. Denn wir haben bereits bewiesen, dass der Kapitalismus überwindbar ist.
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Angesichts der erfolgreichen Konterevolutionen haben wir die Pflicht einer genauen, differenzierten Analyse des Scheiterns, der Stärken, der Deformationen, der Verbrechen, der Erfolge in der Geschichte des Sozialismus. Das betrifft unser Verhältnis zur Arbeiterklasse: Wir haben die Pflicht zu verbreiten, dass der Kapitalismus / Imperialismus überwindbar ist.
Patrik Köbele
Patrik, Vorsitzender der DKP, hörte in seiner Jugend oft den Satz: „Geh doch nach drüben“. 1978 erlebte er dann die DDR zum ersten Mal live, Sozialismus mit Stärken und Schwächen, aber Sozialismus und deshalb die größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung.
Tipps zum Weiterlesen
Hans Heinz Holz: Niederlage und Zukunft des Sozialismus
Essen: Neue Impulse Verlag, 1991
Hans Heinz Holz schrieb dieses Buch unter dem Eindruck des Niedergangs des Sozialismus 1989/90 und der damit einhergehenden Krise Kommunistischer Parteien und stellte fest: „Diese Krise der Parteien ist nicht eine Krise des Marxismus“ Konsequent hält Holz also an den Erkenntnissen von Marx, Engels und Lenin fest, bei diesem ersten Versuch einer Erklärung der Niederlage des Sozialismus und der Bestimmung der künftigen Aufgaben vom Kommunistinnen und Kommunisten.
Kommunistische Partei Griechenlands: Thesen über den Sozialismus
in: Konsequent, Schriftenreihe der DKP Berlin, Ausgabe 2/2011
Mit ihren Thesen legte die KKE den bisher wohl umfassendsten Versuch einer kommunistischen Partei vor, die Niederlage des Sozialismus in Europa zu erklären. Die von einem Parteitag beschlossenen und vorher in der gesamten Partei breit diskutierten 39 Thesen legen den Fokus auf die Analyse der ökonomischen Entwicklung der Sowjetunion und kommen dabei zu einem ganz anderen Ergebnis als viele andere Erklärungsversuche: nicht das Neue, die Planwirtschaft, erwies sich als undurchführbar, sondern das Vertrauen auf Instrumente des Alten, der Marktwirtschaft, zur Lösung der neuen Probleme, untergrub letztlich die wirtschaftliche Basis des Sozialismus.
Siegfried Wenzel: Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz
Berlin: Das Neue Berlin, 2000, 14,90 €
&
Klaus Huhn: Raubzug Ost. Wie die Treuhand die DDR plünderte
Berlin: edition ost, 2009, 9,90 Euro
Beide Bücher widmen sich einer Ansicht, die so häufig vertreten wird, dass sie kaum noch angezweifelt wird: Die DDR war pleite, ihre Industrie wertloser Ramsch, den die Treuhandanstalt, die sie im Auftrag der BRD abwickelte, nur mit Verlusten loswerden konnte. Was oft genug gesagt wird, wird allerdings dadurch noch lange nicht wahr. Wenzel weist nach, wie es um die Wirtschaft der DDR wirklich stand und dass sie mitnichten pleite war. Huhn zeigt, wie die Treuhand das Volkseigentum unter Wert an westdeutsches Kapital verscherbelte.
Wolfgang Schorlau: Die blaue Liste. Denglers erster Fall
Köln: Kiwi, 2003, 7,95 Euro
In diesem Krimi gestaltet Schorlau die Auseinandersetzungen um die und innerhalb der Treuhand-Anstalt, die den Ausverkauf der DDR organisierte. 1991 wird der Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder erschossen, angeblich von der RAF. Nur: Sein Tod machte den Weg frei für die völlige Abwicklung der Betriebe im Osten, profitiert hat das westdeutsche Kapital. Wirklich aufgeklärt wurde der Rohwedder-Mord nie, und das gibt Schorlau den Spielraum, eine Handlung zu entwerfen, die zwar nicht beweisbar, aber durchaus plausibel ist.
Der Sozialismus - unsere Zukunft
Sozialismus vorbei, das war‘s – oder kommt da noch was? Die Niederlage der sozialistischen Staaten in Europa bedeutet nicht das Ende der Geschichte und auch kein Ende des Sozialismus als historischer Alternative zum Kapitalismus. Warum wir die Erfahrungen der DDR beim Aufbau des Sozialismus brauchen und warum wir heute für den Sozialismus kämpfen müssen, erfahrt ihr auf den Seiten 31 bis 34.
Einleitung: Entschuldigung? Vielleicht würde es sich lohnen, die Errungenschaften der DDR zurückzuholen.
Wer heute positiv über diese „DDR“ redet, macht das hinter vorgehaltener Hand. Vorsichtig muss man sein! Sonst wird man in diese Schublade gesteckt… Man könnte schnell in Verbindung gebracht werden mit diesem „K-Wort“… Und dann gehört man zu denen!
Zu den Ewiggestrigen. Denen, die meinen, dass nicht alles schlecht war im Osten. Denen, die sagen, da gab es doch Bananen. Und Gurken, und Schokolade. Zu denen, die erzählen, dass alle Arbeit hatten in der DDR. Dass alle Urlaub machen konnten und im Theater waren wenn sie wollten.
Auch in linken Kreisen ist es alles andere als „chic“, positiv über die DDR zu reden. Manche bekommen schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie nur glauben, dass irgendjemand sie möglicherweise damit in Verbindung bringen könnte, vielleicht unter Umständen so etwas Ähnliches zu wollen wie die Zonen-Diktatur in Ossi-Land. Die Linkspartei hat sich inzwischen für fast alles entschuldigt, was mit der DDR in Verbindung steht: Stasi, Mauer, Mauertote sowieso. Sieht so eine sachliche Auseinandersetzung mit der Geschichte aus? Ist es nicht genau das, was die bürgerliche, die herrschende Presse versucht, in uns hinein zu prügeln? „Alles war schlecht. Die hatten nichts! Die Wende brachte die Einheit und die Freiheit für die hungernden Brüder und Schwestern in der Ostzone!“
Veto: Jedes Kind in der DDR hatte einen Kinderkrippenplatz, kein Kind musste hungern oder lebte in Armut, Schule war polytechnisch: eine Mischung aus Theorie und Praxis. Natürlich für Mädchen und Jungs gleichermaßen. Die Gleichstellung von Mann und Frau wurde vorangetrieben (gerade, wenn es ums Geld ging). Bis 60 haste gearbeitet und dann ging’s flugs in die Rente. Ab da gab es nur noch die Datsche, die Enkelkinder und den guten Pfefferminzlikör.
Wo sind wir dagegen heute? Die einen finden keinen KiTa-Platz, die anderen lassen sich von der Regierung darin bestärken, ihr Kind nicht in die KiTa zu schicken. Gelernt wird nur noch, was man später am Herd oder an der Kasse braucht. Gearbeitet wird bis zum Umfallen und Gleichstellung ist Schnee von gestern. Vielleicht lohnt sich der Blick zurück doch. Vielleicht gibt es doch genug Sachen, die diese DDR richtig gemacht hat. Und vielleicht wäre es richtig, wenn wir uns diese Errungenschaften zurückholen würden.
Diana, Essen
Die Alternative, für die wir kämpfen: Die SDAJ und der Sozialismus – Interview mit Paul Rodermund
Auf der Strasse, in der Schule, am Arbeitsplatz: In allen Kämpfen das sozialistische Ziel im Blick haben. Interview mit Paul Rodermund, Bundesvorsitzender der SDAJ*.
Eine Broschüre über die DDR – hat die SDAJ nichts Wichtigeres zu tun?
Paul: Die Mainstream-Medien erzählen uns, dass die DDR eine Diktatur war, dass dort alles grau war und alle Entscheidungen von einigen alten Männern im Politbüro der SED getroffen wurden. In den Schulen und Unis kann man dieser verordneten Sicht auf die DDR kaum widersprechen, das gibt schnell Ärger. Aber diese Anti-DDR-Propaganda hat doch einen klaren Zweck. Wir sollen glauben, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt. Wir sollen glauben, dass es nicht demokratischer geht als heute, wo wir alle vier Jahre ein Kreuz machen dürfen. Wir sollen glauben, dass es nicht sozialer geht als heute, wo wir uns noch bedanken sollen, wenn wir einen Arbeitsplatz haben und für die Profite eines Unternehmers arbeiten dürfen. Ich finde schon, dass es zu den Aufgaben eines revolutionären Jugendverbandes gehört, diesem Antikommunismus etwas entgegenzusetzen.
Gibt es denn eine Alternative? Hat der Untergang der DDR nicht gezeigt, dass der Sozialismus keine Chance hat?
Paul: Die Konterrevolution hat nur gezeigt, dass es beim Aufbau einer neuen Gesellschaft eben auch Rückschläge gibt. Es wird immer so gerne gesagt: Der Sozialismus funktioniert nicht. Wer so argumentiert, lenkt von dem entscheidenden Punkt ab: Der Kapitalismus funktioniert nicht. Wir haben in den letzten Jahren eine gewaltige Wirtschaftskrise erlebt. Spardiktate, Firmenpleiten, Entlassungen – das ist doch eine riesige Vernichtung von gesellschaftlichem Reichtum, und zwar auf unserem Rücken. Und dann wird gesagt: Die Marktwirtschaft ist effektiv. Ist sie nicht: Kapitalismus heißt Arbeitslosigkeit für die einen und Arbeitshetze für die anderen, Aussieben für die einen und Elitebildung für die anderen, Verschwendung von einigen wenigen und Unterentwicklung in großen Teilen der Welt. Ist das effektiv? Die Widersprüche des Kapitalismus können nur gelöst werden, wenn die Unternehmen nicht mehr einigen wenigen gehören, sondern allen. Wenn der Reichtum nicht nach dem Markt, also für die Profite von wenigen Kapitalisten, eingesetzt wird, sondern planmäßig, für die Bedürfnisse aller. Und wenn die Macht der Banken und Konzerne gebrochen wird. Die Widersprüche unserer Gesellschaft drängen auch heute noch zu einer grundlegenden Umwälzung, zum Sozialismus.
Der Kapitalismus funktioniert nicht? Die Krise hat aber nicht dazu geführt, dass der Kapitalismus am Ende ist…
Paul: Tatsächlich wurde die Stärke und Einbindungskraft, die der Kapitalismus noch immer aufweist, häufig unterschätzt. Natürlich wird der Kapitalismus nicht von selbst zusammenbrechen. Die Eigentümer der großen Konzerne werden ihre Macht nicht freiwillig abgeben, im Gegenteil, sie werden sie mit allen Mitteln verteidigen. Das zeigt sich auch an der Rechtsentwicklung, die wir zurzeit in großen Teilen der EU erleben. Das Kapital hat in der Geschichte gezeigt, dass es auch Faschismus und Krieg einsetzt, um seine Herrschaft auszubauen. Den Kapitalismus überwinden, das geht nur, wenn die arbeitenden Menschen ihn stürzen und eine neue Gesellschaft aufbauen. Aber wir müssen uns natürlich auch klar machen, dass die Arbeiterklasse das heute gar nicht will und dass die meisten Menschen glauben, dass das gar nicht möglich ist. Wir sehen deshalb als SDAJ unsere wichtigste Aufgabe darin, sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterjugend zu verbreiten – also zum Beispiel das Bewusstsein, dass der Sozialismus möglich ist und dass er die Alternative ist, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Vielleicht wäre der Sozialismus eine schöne Sache. Aber tun es nicht für den Anfang auch kleinere Veränderungen, ohne gleich die Revolution auszurufen?
Paul: Die SDAJ kämpft überall mit allen ihren Kräften für Verbesserungen im Interesse der Schülerinnen und Schüler, der Studierenden, Azubis und jungen arbeitenden Menschen. Bei den Bildungsstreiks und in den SVen, in unseren Städten und in den Gewerkschaften sind wir aktiv. Wir kämpfen für gleiche Bildungschancen, für ein Recht auf Ausbildung, für die Übernahme aller Azubis – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber wir müssen uns doch auch klarmachen, dass alles, was wir heute erkämpfen, morgen schon wieder bedroht ist. Wenn wir heute höhere Löhne erkämpfen, kommt erst die nächste Preissteigerung und dann, in der nächsten Krise, wieder eine Lohnsenkung. Und so ist es mit allen Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus. Die SDAJ sagt daher: Wer konsequent für Verbesserungen im Interesse der Arbeiterklasse kämpft, der muss gegen das Kapital und seinen Staat kämpfen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, in allen Kämpfen, die wir heute führen, deutlich zu machen: Die Probleme die wir haben, sind ein Ausdruck des Klassengegensatzes in unserer Gesellschaft. Und jeder Versuch einer Verbesserung stößt sehr schnell an Grenzen. Denn die Profitinteressen der Konzerne sind eben heute wichtiger als unsere Bedürfnisse. Daran ändert auch ein verschönerter Kapitalismus nichts. Bertolt Brecht drückt unsere Herangehensweise so aus: Der Revolutionär „organisiert seinen Kampf um den Lohngroschen, um das Teewasser und um die Macht im Staat.“ Die scheinbar kleinen Kämpfe lassen sich nicht von dem Kampf um grundsätzliche Veränderungen trennen. Wer das ähnlich sieht, den laden wir ein, bei uns mitzumachen.
Grundsätzliche Veränderungen, gut. Aber kann die DDR wirklich als Beispiel für eine andere Gesellschaft herhalten?
Paul: Es gibt ja viele Linke, die sich völlig von der DDR distanzieren. Die Linkspartei zum Beispiel hat sich immer wieder für angebliche Verbrechen der DDR entschuldigt. Viele haben eben Angst davor, von den Mainstream-Medien in die Stasi-Ecke gestellt zu werden. Die SDAJ sieht das anders. Die DDR hat, bei allen ihren Schwächen, gezeigt, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Die Erfahrungen, die die Arbeiterbewegung beim ersten Versuch den Sozialismus in Deutschland aufzubauen, gemacht hat, sind für uns doch enorm wichtig. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Errungenschaften und Problemen der DDR findet in Deutschland nicht statt. Und wenn von Bundespräsident über BILD-Zeitung bis zum Schulbuch eben nur von der zweiten Diktatur auf deutschen Boden geredet wird, ist klar, woher der Wind weht. Wir glauben nicht an ein Ende der Geschichte und meinen, wer eine Zukunft jenseits des Kapitalismus erkämpfen will, muss sich auch solidarisch-kritisch mit der DDR auseinandersetzen.
*Stand: 2014
Theorie: Marx ist tot? Selbst Bürgerliche geben zu, dass Marx aktuell ist – aber nicht, was das für unsere Gesellschaft heißt. Von Dr. Hans-Peter Brenner
Nach dem Ende der DDR waren die Propagandisten des Kapitals sicher, dass der Sozialismus Vergangenheit ist. Und heute? Von Dr. Hans-Peter Brenner
Als der reale Sozialismus untergegangen war, verkündete der Philosoph Francis Fukuyama: Nun sei das Ende der Geschichte angebrochen. Liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft haben sich endgültig durchgesetzt. Fortschritt und Veränderung gibt es nur noch im Kapitalismus, aber nicht darüber hinaus. Der deutsche Arbeits- und Sozialminister, Norbert Blüm (CDU), hielt kurz vor dem Zusammenbruch des Sozialismus eine Rede vor antikommunistisch verblendeten Arbeitern der Lenin-Werft in Danzig. Seine Überzeugung, dass der Sozialismus endgültig Vergangenheit sein würde, fasste er in die Worte: „Marx ist tot, Jesus lebt.“
Und heute? Die Werftarbeiter der „Lenin-Werft“ sind längst – wenn sie nicht schon gestorben sind – Teil des großen Arbeitslosenheeres in Polen. Diese Werft war die „Wiege“ der konterrevolutionären „Solidarnoscz“-Gewerkschaft, nun ist sie fast abgewrackt. So wie fast überall in den postsozialistischen Staaten war über sie die Konkurrenz des Monopolkapitalismus hinweggerauscht wie ein Mähdrescher über ein Kornfeld. So ging es auch der DDR, die zu den zehn größten Industrieländern der Welt zählte.
Wer heute von Leipzig per Bahn nach Magdeburg fährt, muss sich angesichts der zerstörten und stillgelegten Industrieanlagen vor Entsetzen schütteln. Die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ stellen sich in weiten Bereichen dar als Industriebrachen. Massenhaft wanderten die Menschen ab, weil sie keine Arbeit mehr fanden. Rund zwei Millionen Ostdeutsche verließen in den zehn Jahren nach der „Wende“ ihre Heimat – vor allem junge und gut ausgebildete Leute.
Inzwischen glaubt niemand mehr, dass die liberale Demokratie für alle Zeiten gefestigt ist. Der Marxismus ist gewissermaßen aus Ruinen auferstanden. Selbst katholische Kardinäle (wie Rainer Marx) und großbürgerliche Zeitungen (wie das Handelsblatt) erklären, dass Marx alles andere als tot, sondern ziemlich aktuell ist. Besonders deutlich wurde diese „Marx-Renaissance“ während der Wirtschaftskrise. Es war einfach zu auffällig, dass sich hier zeigte, was Marx bereits im 19. Jahrhundert bewiesen hatte: Kapitalismus bedeutet, dass zwar in den Unternehmen gewaltige Organisationsleistungen vollbracht werden. Aber auf gesellschaftlicher Ebene herrscht Chaos in der Wirtschaft. Banken brechen zusammen, weil sie faule Kreditpapiere gekauft haben. Staaten stürzen, weil sie zu viele Schulden gemacht haben. Die Wirtschaft ganzer Länder wird zerstört, weil Deutschlands Exportindustrie eine übermächtige Konkurrenz ist. Kapitalismus bedeutet – auch in dieser Hinsicht kann kaum jemand die Aktualität Marx’ bestreiten – heute wieder mehr als in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Anhäufung von Reichtum auf der einen, ein gewaltiges Anwachsen des Elends auf der anderen Seite. Denn Kapitalismus bedeutet: Der Reichtum unserer Wirtschaft wird zwar gesellschaftlich produziert. Kaum ein Produkt entsteht, ohne dass in irgendeiner Form tausende Menschen dran beteiligt wären. Aber er wird privat angeeignet. Die Unternehmen gehören einigen wenigen Kapitalisten, ihnen gehören die Profite, sie bestimmen, was mit diesem Reichtum passiert.
Ausbeutung und Umweltzerstörung, Faschismus und Krieg sind die logischen Folgen dieser Produktionsweise, denn der chaotische Kreislauf der Konjunktur zwingt die Unternehmer und ihre Vertreter in den Regierungen zu dem rücksichtslosesten Konkurrenzkampf, zur ständigen Jagd nach maximalen Profiten. Die vielfältigen Widersprüche dieser Gesellschaft lassen sich (unter bestimmten Bedingungen) vorübergehend abschwächen. Aber das führt nur dazu, dass sie umso schärfer wieder aufbrechen. Es sind die Widersprüche des Kapitalismus selbst, die dieses System instabil machen.
Aber über diesen Punkt (wenn überhaupt) kommen die angeblichen Marxkenner in etablierten Zeitungen und Lehrstühlen nicht hinaus. Sie sehen nicht, dass diese Widersprüche auch ihre Lösung in sich tragen, dass der Kapitalismus über sich selbst hinaustreibt. Er hat riesige, hoch entwickelte Unternehmen und eine komplexe Weltwirtschaft erzeugt – und damit die Möglichkeit, die Wirtschaft planmäßig an den Bedürfnissen aller auszurichten. Er hat die Arbeit und die Technik so weit entwickelt, dass die Eigentümer der Konzerne überhaupt nicht mehr nötig sind, um die Betriebe am Laufen zu halten – und damit die Möglichkeit geschaffen, die Banken und Konzerne in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Und er hat dafür gesorgt, dass die arbeitenden Menschen mit ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrer Organisation diese Wirtschaft in die eigenen Hände nehmen könnten, dass die Arbeiterklasse in den gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu einer Kraft heranwächst, die die Macht des Kapitals brechen und eine Demokratie ohne Ausbeuter und Kriegstreiber, ohne Spekulanten und Karrierepolitiker aufbauen kann. Aber diese Möglichkeit auch zur Wirklichkeit werden zu lassen, das – so heißt es schon in der alten Hymne der Arbeiterbewegung, der Internationale – „können wir nur selber tun“.
Dr. Hans-Peter Brenner
Hans-Peter, stellvertretender Vorsitzender der DKP, hat 1973 an den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin, Hauptstadt der DDR, teilgenommen und konnte die dort gewonnenen Erfahrungen in eine Broschüre des MSB Spartakus über die DDR einbringen
Tipps zum Weiterlesen
Zukunftspapier der SDAJ
beschlossen auf dem 20. Bundeskongress der SDAJ, 2012
Unter dem Titel „Grundrechte erkämpfen, Imperialismus überwinden – die Zukunft muss sozialistisch sein!“ hat sich die SDAJ auf ihrem Bundeskongress 2012 eine aktualisierte programmatische Grundlage gegeben. Das Zukunftspapier analysiert die heutige Gesellschaftsordnung, den Imperialismus, stellt dem Angriff der Herrschenden die Forderungen der arbeitenden und lernenden Jugend nach ihren Grundrechten entgegen, die Orientierung für die täglichen Kämpfe bieten, und richtet den Blick auch auf die sozialistische Perspektive und die Schritte, die wir gehen müssen, um dorthin zu gelangen.
Hans Heinz Holz: Kommunisten heute. Die Partei und ihre Weltanschauung
Essen: Neue Impulse, 1995
Was bedeutet kommunistische Politik, kommunistisches Selbstverständnis nach der Niederlage der sozialistischen Länder? Welche Konsequenzen müssen die Kommunisten aus dieser Niederlage ziehen, welche Grundpositionen bleiben trotz allem richtig? Im Mittelpunkt steht für den Philosophen Holz dabei die Partei und ihre weltanschaulichen Grundlagen – denn „nur in der unbeirrbaren Konsequenz des Handelns der kommunistischen Partei liegt die Chance, die menschenverachtende Ordnung des Kapitalismus einmal zu überwinden.“
Terry Eagleton: Warum Marx Recht hat
Berlin: Ullstein Verlag, 2012, 18,00 Euro
Wer kennt sie nicht, die Klischees und Vorurteile über Marx und den Marxismus? Der Marxismus ist überholt. Marx ist der am meisten entstellte Denker, den es je gab. Der Marxismus missachtet das Individuum. Solchen und anderen Behauptungen aus dem Repertoire des Antikommunismus stellt Eagleton in zehn Kapiteln auf oft amüsante Weise die tatsächlichen Vorstellungen, Überzeugungen und Absichten von Marx entgegen und widerlegt die so häufig vorgebrachten Einwände.
Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei
in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz Verlag, 1974
Als sich in Europa bereits die revolutionäre Krise von 1848 andeutete, arbeiteten Marx und Engels die Grundgedanken ihrer neuen Weltanschauung in einer kurzen, programmatischen Schrift aus. Das Manifest ist damit die Geburtsurkunde des Marxismus, und es ist bis heute mit am besten geeignet, um die Grundpositionen des Marxismus kennen zu lernen: Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft, was treibt ihre Entwicklung voran? Welche Rolle nimmt die Arbeiterklasse in unserer Gesellschaft ein, inwiefern ist sie die Kraft der Veränderung? Aber auch: Was ist kommunistische Politik, worin sehen die Kommunisten ihre Aufgaben in den alltäglichen Kämpfen, worin sehen sie die Zukunftsperspektive?