{"id":20784,"date":"2024-12-27T08:00:32","date_gmt":"2024-12-27T07:00:32","guid":{"rendered":"https:\/\/www.sdaj.org\/?p=20784"},"modified":"2024-12-21T17:00:10","modified_gmt":"2024-12-21T16:00:10","slug":"materialistisch-begriffene-geschichte-zu-den-ursachen-der-konterrevolution-in-der-udssr","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.sdaj.org\/2024\/12\/27\/materialistisch-begriffene-geschichte-zu-den-ursachen-der-konterrevolution-in-der-udssr\/","title":{"rendered":"Materialistisch begriffene Geschichte – Zu den Ursachen der Konterrevolution in der UdSSR"},"content":{"rendered":"
Die SDAJ h\u00e4lt in ihrem Zukunftspapier fest: \u201eMit der Oktoberrevolution 1917 gelang es, in Russland unter schwierigen Bedingungen aus dem Kapitalismus auszubrechen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Jahrzehntelang konnte ein Sechstel der Erde dem Imperialismus entzogen werden. In dieser Zeit gelang es trotz permanenter Aggression der imperialistischen Staaten, ein System jenseits von Ausbeutung und Profitlogik zu entwickeln.\u201c Damit bewies die Sowjetunion, dass der Sozialismus selbst unter schwersten Bedingungen m\u00f6glich ist. Und doch kam es 1989-1991 zur Niederlage.\u00a0 Wie es dazu kommen konnte, dazu haben Roger Keeran und Thomas Kenny mit \u201eSocialism betrayed. Behind the Collapse of the Soviet Union\u201c einen umfangreich recherchierten und unbedingt lesenswerten Beitrag vorgelegt, der in Deutschland bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde.<\/p>\n
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Aufgrund der R\u00fcckst\u00e4ndigkeit Russlands 1917 und der Verheerungen der imperialistischen Intervention war es notwendig, zeitweilig Kompromisse mit der b\u00e4uerlichen Kleinbourgeoisie einzugehen. Aus diesem Grund beschloss die kommunistische Partei der Sowjetunion, die KPdSU, die Neue \u00d6konomische Politik (N\u00d6P). Die N\u00d6P verfolgte das Ziel, die Wirtschaft nach dem B\u00fcrgerkrieg wiederherzustellen und die \u00fcberlebenswichtige Produktion von Lebensmitteln anzukurbeln. In diesem Rahmen wurde in begrenztem Umfang die private Wirtschaftst\u00e4tigkeit erlaubt. Das Ziel der N\u00d6P wurde erreicht \u2013 doch damit geriet die N\u00d6P auch an ihre Grenzen: So kam die Entwicklung der Produktivkr\u00e4fte, insbesondere die Entwicklung der Schwerindustrie, nur langsam in Gang. Zudem gab es wirtschaftliche Krisentendenzen. Das war der Hintergrund f\u00fcr die Beendigung der N\u00d6P, die vom ersten F\u00fcnfjahresplan abgel\u00f6st wurde. Mit diesem begann der rasante industrielle Aufstieg der jungen Sowjetunion, die wenig sp\u00e4ter einsetzende Kollektivierung der Landwirtschaft ver\u00e4nderte die Klassenstruktur auf dem Land: Die l\u00e4ndliche Bourgeoisie als Klasse verschwand. Diese Entwicklung war mit unvorstellbaren Opfern und auch Verbrechen verbunden. Im Ergebnis war sie aber Voraussetzung f\u00fcr den weiteren sozialistischen Aufbau und den Sieg der Sowjetunion \u00fcber den deutschen und japanischen Faschismus.<\/p>\n
\u00a0<\/strong><\/p>\n Keeran und Kenny zeichnen nach, dass die Richtungsentscheidungen dieser Zeit innerhalb der KPdSU h\u00f6chst umstritten waren. In der Debatte reflektierten die verschiedenen Positionen die unterschiedlichen Klasseninteressen. Auf der einen Seite standen die Interessen der Gro\u00df- und Mittelbauern sowie der N\u00d6P-Kapitalisten, die sich im Programm Bucharins, Ausweitung der N\u00d6P, Orientierung auf Leichtindustrie und Kompromiss mit der Bourgeoisie, widerspiegelten. Auf der anderen standen Lenin und Stalin, die die N\u00d6P als einen zeitweiligen R\u00fcckzug ansahen, der, sobald die Voraussetzungen f\u00fcr den Aufbau einer Schwerindustrie gegeben waren, wieder beendet werden sollte. Damit repr\u00e4sentierten sie die Interessen der Arbeiterklasse und der landlosen und kleinen Bauern. Die zweite Linie setzte sich durch, Gro\u00df- und Mittelbauern und N\u00d6P-Kapitalisten wurden bek\u00e4mpft und verschwanden \u2013 mit ihnen auch tendenziell auch die soziale Basis f\u00fcr kapitalistische, konterrevolution\u00e4re Positionen.<\/p>\n \n Wenn die soziale Basis f\u00fcr konterrevolution\u00e4re Positionen verschwunden war, wie ist dann aber der Durchmarsch der Konterrevolution innerhalb der KPdSU in den 1980ern materialistisch zu erkl\u00e4ren? Unter Chruschtschow wurden marktwirtschaftliche Ideen Bucharins wieder aufgegriffen und w\u00e4hrend Breschnews immer st\u00e4rker eingesetzt. Dazu geh\u00f6rten beispielsweise die Zulassung kleinerer privater Gewerbe, aber u.a. auch die Zur\u00fcckdr\u00e4ngung der Rolle der zentralen Planung gegen\u00fcber regionalen Entwicklungspl\u00e4nen und mehr \u201eEigenst\u00e4ndigkeit\u201c auch der staatlichen Betriebe, die sich zunehmend in einem Marktumfeld wiederfanden. Keeran und Kenny konnten nachweisen, dass sich auf diese Weise in der SU ab den 1950ern eine teils legale, teils illegale privatwirtschaftliche \u201eZweite \u00d6konomie\u201c entwickelte, die neben der offiziellen planwirtschaftlich-sozialistischen Wirtschaft bestand.<\/p>\n Keeran und Kenny z\u00e4hlen sowohl legale als auch illegale private Wirtschaftsaktivit\u00e4ten zur Zweiten \u00d6konomie, weil beide Varianten der sozialistischen \u00d6konomie schaden k\u00f6nnen. Wer einen kleinen Handel mit bestimmten Konsumg\u00fctern betreibt, hat beispielsweise etwas davon, volkseigene Produkte zu stehlen, um sie dann mit Gewinn zu verkaufen. Das war keine Seltenheit. Ende der 1970er Jahre wurde in urbanen Gebieten der Sowjetunion mehr Treibstoff illegal vertrieben als legal. Je gr\u00f6\u00dfer der Anteil des Handels in der Zweiten \u00d6konomie, desto gr\u00f6\u00dfer waren die L\u00fccken in der Versorgung mit staatlichen G\u00fctern und desto schwerer wurde auch die zentrale Planung der \u00d6konomie, weil wesentliche Faktoren, zum Beispiel wie viel und was in der Zweiten \u00d6konomie produziert wird, aber auch an wen verkauft wird, prinzipiell unbekannt sind.<\/p>\n Wer in der Zweiten \u00d6konomie wirtschaftet, braucht gute Kontakte zu Staat und Partei, um das eigene, meist halblegale Gesch\u00e4ft vor polizeilicher Verfolgung zu sichern, aber auch, um an bestimmte Produkte \u00fcberhaupt heranzukommen. Das ist idealer N\u00e4hrboden f\u00fcr Korruption, die dann wiederum dem Ansehen und der F\u00fchrungsrolle der KPdSU massiv schadete. Besonders bekannt geworden wurden Skandale wie der \u201eBaumwolle-Betrug\u201c, bei dem sich Partei- und Regierungsvertreter Milliarden Rubel in die eigene Tasche wirtschafteten. Ein anderes Beispiel ist Koslow, die \u201erechte Hand\u201c von Chruschtschow, der f\u00fcr Millionen Rubel Schmiergelder seinen Einfluss nutzte und die juristische Verfolgung von illegalen Kapitalisten stoppte.<\/p>\n Das Ausma\u00df der zweiten \u00d6konomie ist schwer zu messen. In der Forschung besteht aber Einigkeit, dass sie in den letzten 30 Jahren der Sowjetunion stark gewachsen ist. Sch\u00e4tzungen gehen davon aus, dass das offizielle BIP zwischen 1960 und 1990 etwa um das 4,5-Fache gewachsen ist, die Zweite \u00d6konomie, und da vor allem der illegale Anteil, aber fast um das 20-fache. 1989 soll er bei ca. 20 % des BIP gelegen haben. Mit der Zweiten \u00d6konomie w\u00e4chst auch eine Klasse von neuen Kapitalisten, die potentiell eine soziale Basis f\u00fcr sozialdemokratische oder liberale Vorstellungen sind.<\/p>\n \n Die zweite \u00d6konomie bot, so Kenny und Keeran, die \u00f6konomische Basis, auf der Opportunismus und Verrat wachsen konnten. Sie hatte aber auch einen erheblichen Anteil an der Wirtschaftskrise Ende der 80er, die eine Situation erzeugte, in der sich die Konterrevolution, getragen von einer gro\u00dfen Unzufriedenheit in der Bev\u00f6lkerung, durchsetzen konnte.<\/p>\n Noch Mitte der 80er war die \u00f6konomische Lage der Sowjetunion problematisch, so Keeran und Kenny, aber nicht aussichtslos. 1985 und 1986 stiegen Produktion und Konsumtion an, die Wirtschaft wuchs je 1\u20132 %. Die katastrophalen Entwicklungen der sp\u00e4ten 80er Jahre waren jedoch die Marktreformen, die im Rahmen der Perestroika-Reformen Gorbatschows hervorgerufen wurden. Durch die \u201eRegionalisierung\u201c der Wirtschaftsplanung und immer st\u00e4rkere Zulassung von Privateigentum entstand Chaos in Produktion und Verteilung, durch die Aufgabe des Au\u00dfenhandelsmonopols flossen Mittel ins Ausland ab. Die dadurch entstehende Wirtschaftskrise war noch keine Krise des Sozialismus selbst. Es waren die Perestroika-Reformen, die zu massiver Unzufriedenheit f\u00fchrten, nicht andersherum, auch wenn es nat\u00fcrlich Unzufriedenheit gab. Dennoch: Selbst 1990 wollten nur 4 % eine Aufhebung der Preiskontrollen und nur 18 % favorisierten Privateigentum gegen\u00fcber sozialistischen Eigentumsformen. Die Unzufriedenheit war jedoch so gro\u00df, dass es m\u00f6glich wurde, den Menschen den Kapitalismus als \u201eErneuerung\u201c des Sozialismus zu verkaufen.<\/p>\n Jan (Frankfurt)<\/strong><\/p>\n \n","protected":false},"excerpt":{"rendered":" Die SDAJ h\u00e4lt in ihrem Zukunftspapier fest: \u201eMit der Oktoberrevolution 1917 gelang es, in Russland unter schwierigen Bedingungen aus dem Kapitalismus auszubrechen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Jahrzehntelang konnte ein Sechstel der Erde dem Imperialismus entzogen werden. 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